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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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jenes zu erledigen. Nun wusste ich die Anwesenheit des kleinen Vogels zu schätzen und genoss es, ihn mit einer Hingabe, wie ich sie früher nicht gekannt hatte, zu beobachten, solange es ihm gefiel, vor meinem Fenster zu bleiben.
    Geräusche von draußen drangen zu mir, der Motor eines Automobils, Stimmen am Hauseingang, aber ich achtete kaum darauf, so vertieft war ich in meine Beobachtung des Rotkehlchens. Warum sollten sie mich auch interessieren? Sie hatten nichts mit mir zu tun. Doch dann hörte ich Schritte auf dem Korridor, die vor der Wohnzimmertür verstummten. Nach kurzem Zögern wurde die Tür geöffnet. Vielleicht war es bereits später, als ich angenommen hatte, und jemand wollte nachsehen, ob ich schon wach war und gerne eine Tasse Tee hätte.
    »Arthur?«
    Ich drehte mich überrascht um, dann sprang ich vor Staunen, Unglauben und Freude aus dem Sessel. Stella, meine geliebte Stella, kam mir entgegen.

Die Frau in Schwarz
    A m folgenden Morgen verließ ich das Haus. Mr. Dailys Automobil brachte uns auf direktem Weg zum Bahnhof. Ich hatte meine Rechnung im GIFFORD ARMS durch einen Boten beglichen und fuhr nicht mehr nach Crythin Gifford, denn der Arzt hatte mich eindringlich gewarnt, dass ich nichts tun und nirgendwo hingehen sollte, was mein noch sehr unsicheres seelisches Gleichgewicht wieder ins Wanken bringen könnte. Und um ehrlich zu sein, ich wollte auch nicht mehr in die Ortschaft und das Risiko eingehen, Mr. Jerome oder Keckwick zu begegnen, und am wenigsten wollte ich, nicht einmal aus den Augenwinkeln, die Marschen wiedersehen. Das lag nun alles hinter mir und hätte, wie ich dachte, jemand anderem widerfahren sein können. Der Arzt hatte mir geraten, das Ganze zu vergessen, und ich war entschlossen, es zumindest zu versuchen. Und mit Stella an meiner Seite müsste ich es schaffen.
    Was ich allerdings bedauerte, war, dass ich auch von Mr. und Mrs. Daily Abschied nehmen musste. Als wir uns die Hand gaben, nahm ich ihm das Versprechen ab, uns zu besuchen, sobald er das nächste Mal nach London käme – was er mindestens einmal, im Höchstfall zweimal im Jahr tat. Außerdem versprach er, sollte Spider werfen, für uns ein Junges zurückzubehalten. Die kleine Hündin würde mir sehr fehlen.
    Eine letzte Frage musste ich allerdings noch stellen, so schwer es mir auch fiel, noch einmal daran zu rühren. »Ich muss es wissen«, platzte ich daher heraus, als Stella außer Hörweite in ein Gespräch mit Mrs. Daily vertieft war, die sie mit der ihr eigenen natürlichen Freundlichkeit und Wärme aus ihrer scheuen Zurückhaltung gelockt hatte.
    Samuel Daily blickte mich scharf an.
    »Sie haben mir an jenem Abend gesagt …« Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. »Dass immer ein Kind … ein Kind in Crythin Gifford gestorben ist.«
    »Ja.«
    Ich wagte es nicht, weiterzureden, aber mein Gesichtsausdruck sprach Bände. Meine verzweifelte Besorgnis, die Wahrheit zu erfahren, war offensichtlich.
    »Nichts«, sagte Daily rasch. »Nichts ist passiert …«
    Ich war sicher, dass er »noch nicht« hatte hinzufügen wollen, aber da er es doch nicht tat, sprach ich es aus. Doch er schüttelte nur stumm den Kopf.
    »Möge Gott dafür sorgen, dass nichts mehr geschieht, dass der Kreis durchbrochen ist, dass ihre Macht erloschen ist, dass sie fort ist … und ich der Letzte war, der sie gesehen hat.«
    »Ja.« Er legte beruhigend die Hand auf meinen Arm.
    Ich wünschte mir nichts mehr, als dass es so war, dass die Zeitspanne, seitdem ich die Frau in Schwarz – den Geist von Jennet Humfrye – das letzte Mal gesehen hatte, lange genug gewesen war, um zu beweisen, dass der Fluch geendet hatte. Sie war eine bemitleidenswerte, wahnsinnige Frau gewesen, aus Trauer und Leid gestorben, voll Hass und Rachsucht. Ihre Verbitterung war verständlich. Auch die Wut, die sie dazu gebracht hatte, anderen Frauen die Kinder zu nehmen, weil sie ihr eigenes verloren hatte, war nachvollziehbar, doch keinesfalls verzeihbar. Es gab nichts, was irgendjemand tun konnte, um ihr zu helfen, außer vielleicht für ihre arme Seele zu beten, dachte ich. Mrs. Drablow, die Schwester, der sie die Schuld am Tod ihres Kindes gegeben hatte, war nun selbst tot und ruhte in ihrem Grab, und jetzt, da das Haus leer war, würden vielleicht der Spuk und die furchtbaren Folgen für die Unschuldigen aufhören.
    Das Automobil wartete in der Einfahrt. Ich schüttelte den Dailys die Hand, nahm Stellas Arm und ließ ihn auch nicht los, als ich
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