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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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noch der Meinung war, dass diese Lehre wahrscheinlich die beste Richtlinie war, um als guter Mensch zu leben, hatte ich Gott stets in unerreichbaren Sphären gesehen und meine Gebete im Grunde genommen nur als zeremonielle Pflichtübungen betrachtet. Doch nicht so jetzt. Jetzt betete ich inbrünstig und mit neu erwachtem Glaubenseifer. Ich hatte erkannt, dass es Kräfte des Guten und Kräfte des Bösen gab, die gegeneinander kämpften, und dass ein Mensch sich auf die Seite der einen oder anderen stellen konnte.
    Der Morgen ließ unendlich lange auf sich warten, und als er schließlich kam, war er wieder grau und nass – ein düsterer, trostloser Novembertag. Ich stand auf, doch mein Kopf schmerzte, die Augen brannten, meine Beine waren schwer. Ich zog mich an und schleppte mich nach unten an den Frühstückstisch. Ich bekam keinen Bissen hinunter, hatte allerdings einen schier unstillbaren Durst und trank eine Tasse Tee nach der anderen. Mr. und Mrs. Daily blickten mich immer wieder besorgt an, während ich von meiner Rückreise nach London sprach. Ich dachte, dass ich mich erst wieder wohl fühlen würde, wenn ich im Zug säße und diese Gegend hinter mir am Horizont verschwände. Das sagte ich auch, bemühte mich jedoch gleichzeitig, ihnen meine tiefe Dankbarkeit zu versichern, denn sie waren diejenigen gewesen, die nicht nur mein Leben, sondern auch meinen Verstand gerettet hatten. Als ich mich vom Tisch erhob und zur Tür gehen wollte, schien sich diese mit jedem Schritt weiter zu entfernen. Ich kämpfte mich wie durch Nebel auf sie zu, der von allen Seiten auf mich einwogte und so dicht wurde, dass ich keine Luft mehr bekam und das Gefühl hatte, mich gegen eine dicke Wand zu stemmen, die ich erst wegschieben musste, ehe ich weitergehen konnte.
    Samuel Daily fing mich auf, als ich fiel, und vage war mir bewusst, dass er mich zum zweiten Mal, wenngleich unter anderen Umständen, tragen musste, diesmal die Treppe hinauf zu meinem Zimmer. Dort half er mir beim Ausziehen und ließ mich mit pochendem Schädel und wirrem Verstand zurück. Ich blieb fünf Tage im Bett, in denen mich ein besorgt wirkender Arzt mehrmals besuchte. Danach ließen Fieber und Wahn nach. Ich war über alle Maßen erschöpft und schwach, aber ich konnte endlich wieder in einem Sessel sitzen, anfangs in meinem Zimmer, dann unten. Die Dailys sorgten sich rührend um mich. Das Schlimmste war jedoch nicht die körperliche Krankheit, der Schmerz, die Müdigkeit, das Fieber, sondern der seelische Aufruhr, der mir zu schaffen machte. Die Frau in Schwarz schien mich sogar bis hier zu verfolgen, sie saß an meinem Bett und schob ihr Gesicht, während ich schlief, plötzlich ganz nah vor meines, so dass ich vor Entsetzen aufschrie. Mein Kopf dröhnte von den Schreien des Kindes in der Marsch und dem Rumpeln des Schaukelstuhls und dem Wiehern des ertrinkenden Pferdes. Ich kam nicht frei davon, und wenn nicht Fieberwahn und Alpträume mich quälten, gingen mir die Worte der Briefe und der Sterbeurkunde durch den Kopf, als läse ich die Papiere immer wieder.

    Irgendwann ging es mir langsam besser. Die Ängste verflüchtigten sich, die Bilder schwanden, und ich kam wieder zu mir. Ich war erschöpft, ausgelaugt, aber gesund. Die Frau in Schwarz konnte mir nichts mehr antun. Ich hatte es überstanden. Nach zwölf Tagen fühlte ich mich fast wieder wie früher. Es war ein winterlich kalter, sonniger Tag, nach einem der ersten Frosteinbrüche. Ich saß am offenen Fenster im Wohnzimmer, warm in eine Decke gehüllt, und blickte hinaus auf die kahlen Büsche und Bäume, die sich mit ihrem glitzernden Reifüberzug vom Himmel abhoben. Es war nach dem Mittagessen. Ich konnte ein Schläfchen machen, wenn ich wollte, oder es auch bleibenlassen. Niemand würde mich stören. Spider lag zufrieden zu meinen Füßen, wie während der gesamten Dauer meiner Krankheit. Ich hatte die kleine Hündin tiefer in mein Herz geschlossen, als ich es je für möglich gehalten hätte, und fühlte mich durch die gemeinsamen Erlebnisse tief mit ihr verbunden.
    Ein Rotkehlchen saß hocherhobenen Kopfes mit glänzenden Perlenaugen auf einer der Steinurnen, die die Balustradenpfeiler krönten. Ich beobachtete es glücklich, während es herumhüpfte und dann anhielt, um zu lauschen und zu singen. Mir wurde bewusst, dass ich früher, bevor ich hierhergekommen war, nie die Ruhe hatte, mich auf solch alltägliche Dinge einzulassen, ich wäre längst ungeduldig aufgestanden, um dies oder
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