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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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Harold eine Essenspause eingelegt hatte, war sie deswegen nicht mitgegangen, weil sie ihre Geldreserven nicht
angreifen wollte. Das wenige, was sie hatte, brauchte sie für Notfälle, zum Beispiel, wenn ihr die Zigaretten ausgingen. Sie hatte zwei geraucht, während er im Café war. Er hatte nicht gesagt, dass er etwas gegen das Rauchen habe, aber es war wohl so, denn als er wieder ins Auto stieg, hatte er übellaunig mit der Hand gewedelt.
    »Möchten Sie noch etwas?«, fragte Mrs Shaefer.
    »Ja, bitte, Jesse«, sagte Rose.
    »George«, korrigierte Mrs Shaefer.
    Rose antwortete: »Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen.«
    »Meine Güte, sind Sie höflich«, sagte Thora.
    Es gab keine Nachspeise, nur noch mehr zu trinken, und es wurde geraucht. Rose fühlte sich mittlerweile sicher genug, um den Zitronenschnitz aus ihrem Drink zu fischen. Mr Shaefer begann ein Gespräch mit Bud oder Bob über das Rassenproblem. Es ging hoch her, und irgendwann wurde Mrs Shaefer so wütend, dass sie ihrem Mann einen Schlag auf den Kopf versetzte. Er redete unaufhörlich davon, dass sich die neuen Reformen als verfehlt erweisen würden. Einerseits sei Gleichberechtigung für die Schwarzen richtig, befand er, aber letztlich werde sie nicht funktionieren. Die gebildeten Schwarzen würden aufsteigen und ebenso viel Erfolg haben wie Weiße, aber die Mehrheit, die Unterprivilegierten, würde im Vertrauen auf die Wohlfahrt und ohne die Notwendigkeit, das reine Überleben zu sichern, ihre
wenigen ehrlichen Methoden des Geldverdienens verlernen und sich dem Verbrechen zuwenden. »Ihr glaubt, wir haben jetzt ein Problem«, rief er, »aber wartet mal dreißig Jahre. Denkt daran, wie Dollie die Zukunft eingeschätzt hat.« Da hatte Mrs Shaefer ihn geschlagen.
    Einen Augenblick lang sprach niemand. Rose spürte, dass die plötzliche Stille nichts mit den Schwarzen zu tun hatte. Dann fuhr sich Washington Harold mit der Hand über den Mund und sagte mit einem Blick von Rose zu Jesse Shaefer: »Sie interessiert sich für Martin Luther King jr. Ich habe ihr erzählt, dass du dabei warst.«
    »Ja, das stimmt«, bestätigte Rose. »Wirklich. Ich bin zu einer Freundin gegangen, um ihn im Fernsehen zu sehen.« Das war die Wahrheit. Sie hatte mit Polly und Bernard die Fernsehsendung angeschaut. Aus irgendeinem Grund hatte Polly geweint.
    Jesse Shaefer schilderte erst einmal die Ereignisse im Vorfeld der Ermordung. Dr. King war nach Memphis zu einer Demonstration gefahren, die den sozialen Aufstieg der Farbigen forderte. Das Ganze war schlecht organisiert und artete in einen Krawall aus. Die Polizei eröffnete das Feuer; Ergebnis: ein Toter, sechzig Verletzte. Dr. King, ein überzeugter Pazifist, verließ Memphis.
    Mrs Shaefer gähnte laut und stand auf. »Ich kenne das alles schon«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Die anderen folgten kurz darauf und ließen Rose mit
Jesse allein am Tisch. Er fragte: »Wollen Sie das wirklich hören?«
    »Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«
    »Es ist ein wichtiges Stück Geschichte«, sagte er, »entscheidend für unsere Zukunft. Die Menschen müssen einen Blick für Konsequenzen bekommen.«
    Er wirkte sehr selbstsicher; sie sah, wie seine Hand nach hinten griff und an seinem Pferdeschwanz herumfingerte.
    »Am 4. April, einem Donnerstag, kam er wieder nach Memphis und stieg dort im Hotel Lorraine ab. Man hatte ihm vorgeworfen, dass er immer in den besten Hotels abstieg, deshalb wählte er eins, das weniger Anstoß erregen würde. Er blieb fast den ganzen Tag in seinem Zimmer Nr. 306 und sprach über seinen Glauben. Vermutlich wusste er, was passieren würde.«
    »Herrje«, seufzte Rose.
    »Er sagte, er habe die Angst vor dem Tod überwunden, und obwohl er gern lange leben würde – ein langes Leben sei etwas Schönes –, sorge er sich nicht mehr, er wolle nur Gottes Willen erfüllen. Gott habe ihm gestattet, auf den Berg zu gehen, und von dort habe er das Gelobte Land erblickt.«
    Rose schwieg. Es klang sehr fromm.
    »Gegen sechs Uhr trat er auf den Balkon. Jemand zeigte auf einen Mann in der Menge unten, der am Abend bei Kings Ansprache in der Kirche die Orgel
spielen sollte. King sagte: »O ja, wunderbar. Sag ihm, er soll Precious Lord spielen, und er soll es wirklich schön spielen.«
    Rose starrte ihn an und sah ihn nicht mehr. An seine Stelle war Dr. Wheeler getreten und beobachtete sie.
    Sie war elf Jahre alt. Sie hockte neben einem Graben und untersuchte eine
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