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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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Gewehrkugel, die sie im Schlamm gefunden hatte. Sie wusste, wer er war, obwohl er uralt und deshalb fast unsichtbar war. Er wohnte hinter der Eisenbahnüberführung in dem Haus mit dem Türmchen. Seine Frau trug einen verrückten Panamahut und fuhr mit dem Rad. Wenn sie zur Pommesbude in der Brows Lane fuhr, hängte sie immer einen Korb an den Lenker, damit niemand sah, dass sie ihr Abendessen in Zeitungspapier eingewickelt heimbrachte. Er sagte: ›Wenn du einen Gegenstand so dicht vor die Augen hältst, schließt du den Rest der Welt aus.‹ Sie antwortete: ›Ja, danke‹, denn so antwortete man älteren Leuten.
    »King beugte sich übers Balkongeländer. Als er sich wieder aufrichtete, fiel der Schuss.«
    Ein Jahr später, im Winter, sprach er sie wieder an. Er trug einen Dufflecoat und einen grauen Trilbyhut. Sie versuchte gerade, einen toten Frosch aufzuspießen, der in einer zugefrorenen Pfütze unter den Föhren steckte.
    »Er sackte zusammen und lag hingestreckt am Geländer«, sagte Shaefer.

    › Was machst du da?‹, fragte er. ›Frösche aufspießen‹, antwortete sie. ›Das sind keine Frösche‹, korrigierte er. ›Das sind Kreuzkröten.‹
    Harold kam ins Zimmer. »Ich bin gleich fertig«, beschwichtigte ihn Shaefer. »Alles in Ordnung da draußen?«
    »Alles prima«, sagte Harold. »Bud verbreitet sich über die Zeit, als wir ins Lager fuhren und Mason jr. auf den Bär geschossen hat. Den Moment, wo er geschrien hat und in den Fluss gesprungen ist, hat er ausgelassen.«
    Shaefer kicherte. Harold nahm ein Tablettenröhrchen, das neben dem Salzstreuer stand, steckte es in die Tasche und ging wieder hinaus. Rose sah er nicht an.
    »Er hatte einen Füllfederhalter in der Brusttasche«, sagte Shaefer. Er zeigte auf den Becher neben der ausgestopften Eule. »Als er fiel, rutschte der Füller heraus und rollte in eine Ecke.«
    Einen Monat später sah sie ihn wieder, allerdings wechselten sie da keine Worte. Einem plötzlichen Einfall folgend, bog sie hinter der Eisenbahnüberführung links ab und folgte der Schlackespur, die zu den Kohlelastern neben dem Kraftwerk führte. Sie ging nicht oft dorthin. Eine Weile kletterte sie auf den Lastwagen herum, rauf und runter, und warf Kohlebrocken in die Unterführung. Dann fand sie im Sand einen alten Hammer und eine hölzerne Munitionsschachtel mit zersplittertem Deckel. Sie spielte,
dass sie im besetzten Frankreich war, auf der Flucht vor den Deutschen, und Verbindung zur Résistance hatte. ›Tommy Handley … Tommy Handley‹, klopfte sie, ›kann ich Sie jetzt versorgen, Sir?‹ Es war ein Geheimcode und bedeutete, dass sie auf ein Zeichen wartete, um die Bomben zu zünden. Es begann zu regnen, erst nur ein Sprühregen, dann ein Platzregen. Sie wollte schon in die Unterführung rennen und klopfte: ›Ich bin allein … warten Sie … warten Sie … Gefahr… ich bin nicht allein.‹
    Shaefer sagte: »Er war wie erstarrt, bis auf das Blut, das aus einem großen Riss am Hals strömte.«
    Dann stand sie so lange im Freien und ließ sich nass regnen, bis sie das Gefühl hatte, Gott habe sie rein gewaschen. Ihr Herzklopfen ahmte das verzweifelte Wumm! Wumm! der Boje nach, die am Horizont auf dem gleißenden Meer hin und her geworfen wurde. Als sie den Hammer von sich schleuderte, stürzte er wie ein Raubvogel in die Dünen. Sie betrat die Unterführung, wackelte auf Zehenspitzen am Metallgeländer entlang und hielt plötzlich inne. Vorn am Ausgang stand dunkel ein Mann. Als er sich abwandte, wurde das Gesicht einen Augenblick lang vom aprikosenfarbenen Licht erhellt, und sie erkannte Dr. Wheeler. Dann war er fort.
    Shaefer sagte: »Wir wussten, er war hinüber.«
    Nur noch einen Meter, und sie würde am Strand rauskommen. In diesem Augenblick stieß ihr Fuß gegen ein Hindernis am Geländer. Sie sah genauer
hin und erkannte Billy Rotten, den Einsiedler, der in einer Treibholzhütte im Föhrenwald lebte. Schwarzer Schleim lief ihm aus dem Ohr. Er sah sie ängstlich an, hob die Hand und berührte ihren Mund. Dann sackte sein Körper zusammen. Sie spürte Feuchtigkeit auf den Lippen und leckte Blut ab. Sie sagte: »Entschuldigung, Mr Billy« und hastete weiter.
    »Man sah es an seinen Augen…«, sagte Shaefer.
    Seit dem Ersten Weltkrieg war Mr Billy nicht mehr der Alte, und wer gescheit war, kam ihm nicht zu nahe. Er litt unter einer Kriegsneurose, einem Gebrechen, das er sich zugezogen hatte, als ihm Erdklumpen aus den Schützengräben ins Gehirn geflogen
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