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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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Jahren in einem abgelegenen Küstendorf in Nordengland kennengelernt habe, ergab einfach keinen Sinn. Was tat er da, verkrochen in einem Loch am Ende der Welt? Rose hatte keine Ahnung, welcher Arbeit er nachging; sie habe nie gefragt, sagte sie; man habe ihr beigebracht, es sei unverschämt, jemanden zu fragen, womit er sein Geld verdiene.
    Er hatte sich bei Jesse Shaefer erkundigt, und der hatte widerstrebend und umständlich angedeutet, Wheelers Aufenthalt in England könne etwas mit den in der Türkei stationierten Jupiter-Raketen zu
tun gehabt haben; ausführlicher wollte er sich nicht äußern. Shaefers Erklärung kam der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe. Rose sagte, Wheeler sei häufig weg gewesen – im Urlaub, glaubte sie, denn er war sonnengebräunt, wenn alle anderen blass waren.
    Er selbst hatte Wheeler vor sieben Jahren durch Shaefer kennengelernt, auf einem Empfang anlässlich der Ernennung des Bruders des Präsidenten zum Justizminister. Wheeler trug einen grauen Anzug und edle braune Schuhe. Wenn er mit leicht geneigtem Kopf ein Zimmer durchquerte, schien er nicht zu gehen, sondern zu gleiten. Wenn er sprach, beschattete er manchmal die Augen mit der Hand, wie wenn man in die Ferne blickt. Das wirkte keineswegs aufgesetzt, er war einfach einer dieser vom Glück begünstigten Menschen, die Eindruck auf andere machen. Natürlich war er sich dessen bewusst, aber wer wollte ihm das vorwerfen? Anerkennung ist etwas, wonach sich jeder sehnt, und sei es nur, um sich der eigenen Existenz zu versichern. In den folgenden zwölf Monaten hatten sie etwa ein halbes Dutzend Mal zusammen gegessen, und Wheeler hatte jedes Mal die Rechnung bezahlt. Am Jahresende bekamen sie Ehrenkarten für das Spiel der Green Bay Packers gegen die New York Giants. Wheeler tauchte nicht auf, aber kurz danach bekam Dollie einen Strauß Rosen sowie eine Karte mit einer Entschuldigung geschickt.
    Es war schmeichelhaft gewesen, von einem so wichtigen, im Mittelpunkt stehenden Mann umworben zu
werden – zumindest solange die wahren Motive für sein Interesse noch nicht offenbar waren. Deshalb war auch seine Beziehung zu Rose so unbegreiflich. Ihre erste Begegnung konnte nicht sexueller Natur gewesen sein. Sie war noch ein Kind, und er war kein Narr. Und nach Roses Beschreibung von ihrem letzten Treffen in London zu urteilen, dem Besuch bei Madame Tussaud, dem Geblödel über die Schlacht von Waterloo, der letzten Tasse Kaffee am Bahnhofsbuffet, waren sie nie intim miteinander gewesen. Dennoch hatten sie einander offenbar nahegestanden, denn Rose äußerte Gedanken, die zu überfrachtet und verschroben waren, um einem so ungebildeten Kopf wie dem ihren zu entstammen. Das Kinn fettglänzend vom Steak und die Gabelzinken auf seine Brust gerichtet, hatte sie gestern Abend erklärt, bald wären sie alle alt, und dann würden sie in leeren Zimmern von Menschen träumen, die vor langer Zeit mal eine Tür zugeschlagen hatten; vor so langer Zeit, dass es mittlerweile keine Bedeutung mehr hatte.
    Rose kehrte eine Stunde später zurück; sie schien nicht allzu bestürzt, dass sie Wheeler nicht angetroffen hatte. Sie berichtete, Mrs Stanford habe Teppiche an den Wänden hängen und auf der Toilette ein Porträt von Walt Whitman. Man habe ihr Tee ohne Milch angeboten.
    »Keine Spur von Wheeler?«, fragte er.
    »Du hattest recht«, sagte sie. »Er ist schon seit längerer Zeit weg. Vor ein paar Wochen kam ein Mann
vorbei und hat nach ihm gefragt, aber er hat seinen Namen nicht genannt.«
    »Ich schätze, Wheeler kennt viele Leute.«
    Sie zog einen Umschlag aus der Tasche. Vorn drauf stand ihr Name getippt. Sie sagte: »Sie haben sich endlos darüber ausgelassen, wer der nächste Präsident werden könnte. Es gibt Richard Nixon, Hubert Humphrey, Eugene McCarthy, Robert Kennedy, Jimmy Wallace …«
    »George«, korrigierte er.
    »Wer auch immer«, sagte sie und zerknüllte den Brief in ihrer Faust. Er schielte zu ihr hinüber und sah eine Träne von ihrer Wange plumpsen.

3
    Die Shaefers wohnten im sechsten Stock eines umgebauten Lagerhauses in einer Seitenstraße der Connecticut Avenue. Harold behauptete, es sei eine sehr vornehme Gegend, deshalb sei niemand zu Fuß auf den Straßen. Wer irgendwohin wolle, fahre mit dem Auto.
    Mrs Shaefer öffnete ihnen die Tür. Sie war klein und stämmig und trug eine fleckige Schürze über einem langen, schwarzen Kleid. Noch ehe sie Guten Tag sagte, beschimpfte sie einen hinter ihr stehenden Mann mit
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