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Die Frau im Fahrstuhl

Die Frau im Fahrstuhl

Titel: Die Frau im Fahrstuhl
Autoren: Helene Tursten
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Schwesternzimmer und warteten auf Gunillas Rückkehr. Sie erschien um Viertel nach zwölf.
    Ich hatte eine fröhliche und triumphierende Gunilla erwartet, die lautstark damit angab, jetzt sei das Geheimnis wahrhaftig gelöst! Aber das Gegenteil war der Fall.
    Mit geistesabwesender und grüblerischer Miene betrat sie das Schwesternzimmer. Die eine Wange wies eine blutende Schramme auf. In ihrem blonden lockigen Haar hatten sich Laub und ein Stöckchen verfangen.
    »Warst du draußen? Setz dich, dann können wir die Wunde reinigen, und du kannst erzählen«, sagte ich.
    »Wunde?«, erwiderte Gunilla erstaunt.
    Als ich damit begann, die Blessur mit dreiprozentigem Wasserstoffperoxid abzutupfen, murmelte Gunilla: »Ach das. Das war, als ich mich durch den Flieder drängen wollte.«
    Majvor und ich sahen uns fragend an, sagten aber nichts, sondern warteten ungeduldig darauf, dass Gunilla endlich zu erzählen begann.
    »Nachdem ich die Tür zur Poliklinik aufgeschlossen hatte, schlich ich mich hinein und stellte mich hinter die Tür. Durch den Türspalt hatte ich einen perfekten Überblick über die Fahrstuhltür und fast das gesamte Entree. Gegen zwölf fuhr der Lift erst nach oben und dann sofort wieder nach unten. Genau so wie immer. Ich muss gestehen, dass mich der Gedanke, dass der Fahrstuhl gleich bei mir ankommen würde, nervös machte. Schließlich kam er. Ich hörte es deutlich rumpeln, als er stehen blieb. Und dann passierte nichts.«
    »Nichts? Kam sie nicht heraus?«, fragten Majvor und ich wie aus einem Munde.
    Entschieden schüttelte Gunilla den Kopf.
    »Nein. Nichts geschah. Ich kam mir ziemlich dumm vor, so in der Dunkelheit zu lauern. Nach ein paar Minuten beschloss ich, durch das Fenster in der Fahrstuhltür zu schauen. Ich verließ mein Versteck und schloss die Tür zur Poliklinik ab. In diesem Augenblick muss sie sich aus dem Fahrstuhl geschlichen haben. Ich hatte dem Fahrstuhl nur ein paar Sekunden lang den Rücken gekehrt. Das Schloss ging recht schwer.«
    Gunilla verstummte und sah eine Weile lang ziemlich nachdenklich aus, dann fuhr sie fort: »Ich begann, auf den Lift zuzugehen, und hatte erst ein paar Schritte gemacht, als ich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Rasch drehte ich mich um und sah, dass die Frau durch die Eingangstür gegangen war! In diesem Augenblick kam der Mond hinter den Wolken hervor, und ich erkannte deutlich ihren grünen Rücken durch das Glas der Tür.«
    »Aber Gunilla! Du hättest sie doch hören müssen! Das Entree hat einen Marmorfußboden, und sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen. Mit denen kann man nicht schleichen«, unterbrach ich sie.
    »Sie muss ihre Schuhe ausgezogen haben. Obwohl, wenn ich darüber nachdenke…«
    Sie saß lange schweigend da, ehe sie fortfuhr: »… dann habe ich auch nicht gehört, wie sie die schwere Außentür geöffnet hat.«
    Wieder wurde es im Zimmer still. Majvor brach das Schweigen: »Was ist dann passiert? Wie bist du in das Fliedergebüsch geraten?«
    »Ich bin zur Tür gerannt. Als ich sie endlich aufbekommen hatte, hatten sich Wolkenschleier vor den Mond gelegt, und die Sicht wurde schlechter. Aber ich sah sie. Sie ging quer über den Rasen den Hügel hinunter. Mit diesen Absätzen hätte sie eigentlich den asphaltierten Gehweg benutzen müssen. Das tat sie aber nicht. Ich ging, so rasch ich es wagte, hinter ihr her. Die Sicht war schlecht, und ich wollte mir nicht den Fuß verstauchen. Die ganze Zeit hatte ich sie im Blick. Sie ging direkt auf die Fliederbüsche zu. Wie ein schwarzer Schatten trat sie zwischen die Büsche und verschwand!«
    Majvor und ich saßen mit aufgerissenen Augen da und starrten Gunilla an. Schließlich hatte ich mich wieder gefasst und sagte mit gepresster Stimme: »Was meinst du damit? Verschwand?«
    »Genau das. Sie verschwand. Sie löste sich in Luft auf oder genauer gesagt in nichts.«
    Es schauderte mich. Ich flüsterte: »Sie ist also ein Gespenst.«
    Da schnaubte Gunilla: »Gespenst! Sie hat mich reingelegt! Sie kannte natürlich einen Weg durchs Gebüsch und ist entkommen. Ich verfing mich in den Zweigen. Währenddessen spazierte sie auf der anderen Seite weiter und lachte mich aus.«
    Gunilla sah richtig wütend aus.
    Obwohl sie an ihrer Theorie festhielt, war sie nicht sonderlich erpicht darauf, ihren Beschattungsauftrag zu wiederholen.
    Und die Grüngekleidete durfte ihre Fahrstuhlfahrten bei Vollmond fortsetzen.
     
    Im Jahr darauf machte ich eine Fortbildung zur
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