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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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Mal hatte ich es vor sechs Jahren gesehen, und es war noch genauso wie in meiner Erinnerung: die goldenen Lampenschirme, der dunkle Perserteppich, die hohen, überquellenden Bücherregale, der Lehnsessel und das Sofa von William Morris, die Reproduktionen von Turner und Constable, der Kaminsims mit der Reiseuhr und dem Landvolk aus Porzellan. Im Kamin brannte ein künstliches Holzfeuer, und gleich nach meiner Ankunft zog Hester die dunkelbraunen Vorhänge zu und sperrte das verlöschende Nachmittagslicht aus. Anfangs wirkte auch sie kaum verändert – die hinten zusammengefassten grauen Haare und die hohen Falten auf ihrer Stirn, die zusammengepressten Lippen und die starrenden, ziemlich vorwurfsvollen Augen hinter ihren dicken Brillengläsern. Sie trug sogar noch dieselbe ausgebeulte, braune Strickjacke. Vielleicht war sie ein wenig dünner geworden, und sie ging leicht gebeugt.
    »Tee, denke ich«, war alles, was sie sagte, bevor sie in die Küche ging. Wir hatten uns nicht einmal umarmt. Etwas an diesem konventionell gemütlichen Zimmer wirkte beinahe abweisend, als läge eine Kälte in der Luft, die kein Heizen überwinden konnte. Mir graute noch mehr davor, ihr zu zeigen, was ich über diesen Tag am Meer geschrieben hatte. Ich hatte meine Ausreden parat, und als sie mit dem Tee zurückkam, entschuldigte ich mich sofort dafür.
    »Die Egozentrik eines jungen Mannes«, murmelte ich schließlich. »Was soll es um Himmels willen bringen …?«
    Ich holte den Text aus meiner Aktentasche, und sie goss mir wortlos Tee ein, ging mit dem Bericht zum Sessel und las ihn, während ich in die ewig gleichen, tanzenden Flammen des Feuers starrte. Sie las sehr langsam, und als ich zu ihr hinüberschaute, war ihr Gesicht völlig ausdruckslos.
    Als sie fertig war, legte sie die Seiten auf den Tisch und ihre Brille daneben und verließ mit den Worten: »Nur einen Augenblick, Johnny« das Zimmer und ging nach oben.
    Am Fuß der Treppe drehte sie sich um und warf mir ein komplizenhaftes Lächeln zu, das ich bei ihr noch nie gesehen oder völlig vergessen hatte. Nein, das sehe ich jetzt, es war eher das Eingeständnis, dass nicht alles so war, wie es sein sollte, dass es aber zu spät war, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, und wir lieber das Beste aus der Zeit machen sollten, die uns noch blieb. Außerdem hatte ich sie seit unserer Kindheit nicht mehr ohne Brille gesehen, und ihre nackten Augen zeigten, wie sie vielleicht beabsichtigt hatte, eine kurze Sehnsucht danach, erkannt zu werden. In diesem Augenblick wurde sie wieder zur Hester unserer Kindheit – verletzlich und nicht bemitleidenswert, alle Kraft zusammennehmend, die sie aufbringen konnte, um Julie und unsere Mutter zu beschützen … So beschreibe ich es zumindest jetzt. Es war ein flüchtiger Augenblick, und in dem sah ich, wie krank sie gewesen war, ihre hohlen Wangen und die dunklen Ringe um die ungeschützten Augen.
    Als sie zurückkam und die Brille wieder aufsetzte, fand sie zu ihrem gewohnten, nüchternen Selbst zurück, und einen Augenblick lang meinte ich, so wie sie da saß und auf den Bericht klopfte, er habe sie verärgert. Das Lächeln auf der Treppe sei nur eine kurze Höflichkeit gewesen.
    »Nun, Johnny, das ist ziemlich genau so, wie ich mich daran erinnere, an diesen Nachmittag. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was dir durch deinen gescheiten Kopf ging, aber du warst ja schon immer ein ziemlich distanziertes Kerlchen, hattest immer was Berechnendes an dir. Mit meiner Sehkraft springst du aber nicht sehr freundlich um, was?«
    Ich lachte spöttisch auf. »Das tut mir leid.«
    »Muss es nicht. Ich hatte allerdings keine Ahnung, na ja, wie sehr du uns geliebt hast. Es ist ein sehr loyaler Text, nicht?«
    »Na ja, bei dieser und bei anderen Gelegenheiten hatte ich eher das Gefühl, dass ich sehr viel mehr tun sollte.«
    »Du darfst das jetzt nicht zu sehr idealisieren. Meistens waren wir ziemliche irritierende, kichernde Schwestern. Das kommt hier auch raus.«
    »Weißt du noch, wie du dich gefühlt hast?«
    »Zwei Dinge, schätze ich. Ich hatte oft Angst, wahrscheinlich auch an diesem Tag, vor dem, was als Nächstes kommen würde. Man lernte, auf der Hut zu sein.«
    »Und das andere?«
    »Natürlich Mutter. Da war diese dauernde Besorgnis und Traurigkeit in der Luft. Angst. Verzweiflung. Sie war so unglücklich, nicht? Ich würde sagen, du hast diese Stimmung ziemlich gut ausgedrückt, auch wenn du damals nicht so empfunden haben kannst. Du warst
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