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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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würde einfach verschwinden …
    *
    Hier brach der Text ab, weiter war ich vor fünf Jahren bei meinem Versuch, etwas über Julie zu sagen, sie zusammenzufassen, nicht gekommen. Das war die reine Wahrheit: eine endgültige Zusammenfassung, bestimmt allein für den Papierkorb des Lebens. Ich legte es mit Julies Postkarte, den Fotos und meinem Bericht über den letzten Ausflug ans Meer beiseite. Und ich tat es mit einem erleichterten Aufseufzen. Schon allein der Gedanke an Julie war zu einer Last geworden, die ich gern abschüttelte – die Erkenntnis, dass bei der Frage, was wohl aus ihr geworden war, der Groll inzwischen stärker war als die Liebe. Ich sehe jetzt deutlich, dass das, was ich geschrieben hatte, ans Sentimentale grenzte, weil ich nur das Beste in ihr sehen wollte und den Rest minimiert hatte. Aber das Beste war strahlend, und ich versuchte, mich daran zu klammern. Wenn ich es jetzt wieder lese, erkenne ich auch, dass ich das verletzliche Kind in ihr gesehen hatte.
    Und doch habe ich den Ordner nicht weggeworfen, seitdem liegt er an einer Ecke meines Schreibtischs. Es ist ein sehr vollgepackter Schreibtisch, aber ich lege nie Bücher und Papiere obenauf. Vielleicht ist es eine stete, wenn auch unbewusste Erinnerung daran, dass ich Julie nie komplett aus meinem Leben streichen kann. Der Ordner liegt da wie ein Vorwurf, ein verblassender Rest dessen, was sie mir einmal bedeutet hat.
    Zu der Zeit bekam ich auch eine neue und interessante Kolumne angeboten und erhielt außerdem den Auftrag für ein neues Buch. Es sollte eine Studie werden darüber, was aus dem Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit geworden war und wie der vom Postulat der Brüderlichkeit beeinflusst worden war: Diese drei waren inzwischen degeneriert zu Befriedigung, Verdummung und Schmeichelei. Und davon ausgehend wollte ich zeigen, wie die Sucht nach immer Neuem, Arschkriecherei und Promi-Geilheit an die Stelle der Erneuerung der Werte und der öffentlichen Ehre getreten war. Ziemlich dogmatisches Zeug, nicht sehr originell, klar, aber es traf doch hier und dort den richtigen Ton. Und so war Julie wieder einmal größtenteils vergessen. Ich habe seither nicht mehr in den Ordner geschaut, aber hin und wieder habe ich die Hand danach ausgestreckt und sie dann wieder zurückgezogen, aus Angst, ich könnte vereinnahmt werden von ihrer geisterhaften Präsenz, und sie würde mich dann nicht mehr loslassen. Zumindest bis jetzt war das so.
    Vor etwa vierzehn Tagen war es wieder einmal Zeit für meinen Routineanruf bei Hester. Sie wirkte ungewöhnlich schwach und distanziert. Als ich sie fragte, wie es ihr gehe, zögerte sie, bevor sie mit einem Seufzen sagte: »Kann mich nicht beschweren, Johnny.«
    Normalerweise war sie so scharf und barsch, ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. »Du würdest es mir doch sagen, oder?«
    »Dir was sagen?«
    »Na, wenn du krank wärst zum Beispiel.«
    »Natürlich.«
    Aber ich wusste, sie würde nichts sagen, höchstens in einem extremen Fall. »Ich muss dich bald einmal besuchen«, sagte ich. »Ich habe jetzt mehr Zeit.«
    »Das würde mich sehr freuen«, sagte sie, als meinte sie es ernst. Dann fügte sie wie aus heiterem Himmel hinzu: »Ich habe in letzter Zeit sehr viel an Julie gedacht.« In ihrer Stimme lag eine ungewöhnliche Schwermut, und ich wartete, wie mir schien, sehr lange. »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir an den Strand fuhren, kurz bevor Vater sich aus dem Staub machte?«, fragte sie.
    »Ja, daran erinnere ich mich. Das war ziemlich schrecklich, oder?«
    »Die Sache ist, du wolltest ihn tot an diesem Tag, nicht?«
    »Ich weiß nicht mehr ganz …«, setzte ich an, aber ich erinnerte mich noch viel zu gut daran. Ich hatte diesen Bericht geschrieben, kurz bevor unsere Mutter starb, und hatte ihn mir noch einmal angesehen, als ich meine Gedanken über Julie in den Ordner steckte, der noch immer an dieser Ecke meines Schreibtischs lag.
    »Weißt du nicht mehr, in diesem Café im Krankenhaus, nachdem wir Mutter besucht hatten, da hast du doch zugegeben …«
    »Na ja, ich weiß nicht so recht, ob ich …«
    »Ich habe gesehen, was du getan hast, Johnny. Ich wollte ihn auch tot. Ich wollte, dass er aufhört, Mutter das Leben zur Hölle zu machen … Bitte, versuch dich zu erinnern.«
    »Ich werde mal darüber nachdenken«, sagte ich ziemlich hastig, bevor ich mich verabschiedete und auflegte.
    Etwas an der heiseren Eindringlichkeit ihrer Stimme sagte mir, dass es ihr nicht
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