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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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Nachbarn fragen könnte, mit denen sie nichts gemein hat, obwohl »sie, schätze ich, recht harmlose Leute sind«. Sie ist pensionierte Bibliothekarin, die sehr viel liest, vor allem Romane. Sie hat es aufgegeben, sie mir zu empfehlen, weil ich ihr sagte, dass sie mich so oft enttäuschen: die Trivialisierung und die Schwarzweißmalerei, der Mangel an Besonderheit und das verkrampfte Bemühen, »schön zu schreiben«, das Unscharfe und Beliebige, der Mangel an Lebensechtheit oder »Lebhaftigkeit«, wie ein Kritiker das einmal nannte. Nur Worte und keine Menschen. Wie derselbe Kritiker sagte: »Helle Lichter sind nicht immer ein Zeichen von Bewohntheit.« Sie empfahl mir Schriftsteller, auf die das alles nicht zutraf (Sebald, Makine, Robinson, Némirovsky, Lessing, Trevor, Munro sind einige Namen, dir mir in den Sinn kommen), und für ihre Vorschläge war ich immer dankbar. Auf jeden Fall, so sagte ich, hätte ich neben all der Lektüre, die ich sowieso durcharbeiten müsse, keine Zeit für etwas anderes. Über meine Bücher sagte sie, sie seien »sehr intelligent und interessant«, aber ich bezweifle, dass sie sie zu Ende gelesen, geschweige denn genossen hat. Sie sind durchaus respektabel, auf ihre Art vielleicht sogar maßgeblich, aber zwischen uns konnten sie kaum ein Gesprächsthema sein.
    Kurz, unsere Telefongespräche (immer bin ich es, der anruft) sind knapp und eher selten, von meiner Seite her kaum mehr als Pflichterfüllung, das muss ich leider zugeben. Wie gesagt, sie ruft mich nie an. Einmal fragte ich sie, warum. »Mach dich doch nicht lächerlich!«, erwiderte sie. »Du bist viel zu beschäftigt, als dass du dich mit einer alten Jungfer von Schwester abgibst, die in einem Dorf in Lincolnshire lebt und absolut nichts Interessantes in ihrem Leben vorzuweisen hat, außer, wie viele Eier die Hühner gestern gelegt haben …« »Aber du bist meine Schwester !« , hätte ich einwenden sollen. Vielleicht habe ich es sogar getan. Es hätte nichts geändert. In der Stille haben wir dieselben Gedanken, die zu schmerzlich sind, um sie auszusprechen. Wo lief das alles schief? Die wichtigste aller Fragen …
    Während ich dies schreibe, sehe ich Julie deutlich vor mir, das strahlende Lächeln, als wir uns umarmten auf dieser windigen Straße in Soho, nachdem wir zusammen zu Mittag gegessen hatten. Sie hatte ununterbrochen darüber geredet, wie wunderbar ich schreiben könne, dass sie immer gewusst habe, dass ich Erfolg haben würde, wie stolz sie sei und so weiter. Sie wirkte so glücklich und sorglos, und ich wartete auf den Augenblick, da sie mich wieder einmal fragen würde, ob ich ein wenig Geld übrig hätte, nur das, was ich dabeihätte, sie sei gerade ein wenig knapp bei Kasse. Ich hatte mir davor 200 £ aus dem Bankautomaten geholt, nur für den Fall. Doch allmählich merkte ich, dass sie nur so viel redete und lächelte, um die Tränen zu unterdrücken, um den Kummer, der in ihr aufwallte, in Schach zu halten. Immer wieder fasste sie auf dem Tisch nach meiner Hand, als wäre ich es, der Trost und Ermutigung brauchte. Einmal machte ich den Fehler, zwischendurch auf die Uhr zu schauen, und sie rief aus: »O Gott, es tut mir so leid, mein Lieber, wie gedankenlos von mir, wo du doch so beschäftigt bist! Natürlich haben wir keine Zeit mehr für Nachtisch und Kaffee …« Und sofort fing sie an, ihre Habseligkeiten in die Handtasche zu stecken und ihren Schal umzulegen und, diesmal sehr zielstrebig, meine Hand zu fassen. »Mein Lieber, mein lieber Johnny, du bist ja so gescheit, und ich bin so ein Quälgeist. Du brauchst dein Hirn wirklich für anderes als für mich dummes altes Ding. Ach warum, Johnny, warum mache ich mich immer nur so furchtbar lächerlich?«
    Das war unsere letzte Begegnung. Das waren ihre letzten Worte. Eine lange, feste Umarmung auf dieser kalten, hektischen Straße, dann wandte sie sich von mir ab, bevor ich etwas sagen konnte, und ich wusste, sie tat es, weil ihr nun doch die Tränen kamen. Oder genauer, ich sagte zwar etwas, aber ich glaube nicht, dass sie es hörte. »Ich will nur, dass du glücklich bist, Julie …« war alles, was ich herausbrachte.
    Und so kommt es, dass Hester und ich nicht über Julie sprechen, weil wir beide auf unsere Art nicht sagen können, dass wir nur hoffen, sie habe ihr Glück gefunden. Und doch wissen wir, dass sie, wenn sie es gefunden hätte, es uns irgendwie hätte wissen lassen – um unser Gewissen zu erleichtern, wenn das nicht zu zynisch ist. Sie
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