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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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hätte uns nie einen Haufen Lügen über Erfolg oder Glück aufgetischt, denn sie war selbst zu vertrauensselig, sie hätte nicht erwartet, dass wir etwas glaubten, was nicht ganz stimmte. Hester sagte einmal, sie ist aus unser beider Leben verschwunden, weil sie Angst hatte, dass unsere ständige Sorge um sie uns zu viel Kummer machen könnte. Ihre Stimme klang leicht bitter dabei, als würde sie nur aussprechen, was ich nicht sagen wollte. Und ja, sie war eine Peinlichkeit, ein Quälgeist geworden. Der mondäne, seriöse John Bridgewell mit seiner promisken Schwester …
    Sie schickte uns eine Postkarte mit Poststempel aus Liverpool, auf der nur stand: »Mein lieber, lieber Bruder und meine liebe, liebe Schwester. Morgen früh geht’s ab nach Kanada. Ist besser für alle, wenn ich mich von diesem traurigen Schlamassel meines Lebens (endgültig, haha!) verabschiede. Ich kann einfach nicht mehr so weitermachen. Ein neuer Anfang, eine Wiedergeburt, wie es heißt. Ihr seid besser dran ohne mich. Übrigens, alle Schulden sind beglichen! Und VIELEN DANK!« Sie meinte, sich entschuldigen zu müssen bei weiß Gott wie vielen Leuten, die sie enttäuscht zu haben glaubte. Wo habe ich das nur gelesen: Denn nur die Guten zweifeln an ihrem eigenen Gutsein, was sie überhaupt erst zu Guten macht. Die Schlechten wissen, dass sie gut sind, aber die Guten wissen gar nichts. Sir bringen ihr Leben damit zu, anderen zu vergeben, aber sich selber können sie nicht vergeben.
    Ach, Julie! Sie hatte eine solche Lust aufs Leben, eine solche Bereitschaft zu helfen und zuzuhören, und sie hatte so viel Fröhlichkeit in sich! Und eine solche Fähigkeit zu geben – ist das ein Maß für die Fähigkeit, sich verletzen zu lassen? Diese Männer, einer nach dem anderen, wandten sich von ihr ab. »Warum sind solche Unmengen von wunderbaren, begabten Mädchen mit unmöglichen Männern verheiratet?« Nicht dass sie irgendeinen von denen geheiratet hat, soweit ich weiß. »Es wäre dann schwerer, mich sitzenzulassen, nicht, Johnny?«, sagte sie einmal zu mir mit diesem für sie so typischen, sowohl beschämten wie triumphierenden Kichern. Es war, als würde es ihr nichts ausmachen, doch dann legte sie den Hörer auf, als wollte sie nicht, dass ich an ihrer Stimme hörte, wie viel es ihr ausmachte.
    Auf einer Party sprach ich einmal mit einer Frau, die nicht wusste, dass ich ihr Bruder war. Julie stand in einer anderen Ecke des Zimmers, hatte einem Mann die Hand auf die Brust gelegt und lachte ausgelassen. Auch er lachte, aber die beiden anderen, die bei ihnen standen, ein Mann und seine Frau, die ich entfernt kannte, missbilligten es offensichtlich. Die Frau neben mir sagte: »Diese Julie, immer im Mittelpunkt, weil sie sich immer in den Mittelpunkt stellt. Was für eine leichte Beute.« Ich ging weg. Ich verteidigte sie nicht, was meine Schande noch vergrößerte.
    Diese Lust auf alles, was war sie denn anderes als Hunger nach Leben, Hunger nach Liebe? Aber als sie diesem Mann auf die Brust klopfte, sah ich, wie sie anderen auf die Nerven gehen konnte, ohne es auch nur zu ahnen – sie nahm einfach an, dass die Leute eben so waren, dass sich jeder danach sehnte, das meiste aus dem Leben herauszuholen. Es sei nicht nur die endlose, unverfrorene Fröhlichkeit, die die Leute verärgerte, sagte man mir bei einer anderen Gelegenheit. Es sei ihre Großzügigkeit – freigebig versandte sie kleine Gaben, verschenkte Bücher, erinnerte sich an Geburtstage und Jubiläen, verlieh Geld und so weiter. Es war nicht die Großzügigkeit von jemandem, der gemocht werden wollte. Sie war ohne jeden Hintergedanken. Dieses Zitat kommt der Sache ziemlich nahe. Es war Menschenfreundlichkeit, glaube ich, ganz gewöhnliche Herzensgüte. In der gierigen, geschwätzigen, zynischen, eitlen und neidischen Welt, in der ich lebe und über die ich zu schreiben versuche, hat solche Spontaneität keinen Platz. Die Kehrseite davon war, dass sie ebenso ungezügelt von anderen borgte, in Dimensionen, die zurückzuzahlen sie nie hoffen konnte. Einmal überzeugte ich einen Parlamentsabgeordneten, sie als Teilzeitsekretärin einzustellen, aber das hielt nur einen Monat: »Um ganz offen mit Ihnen zu sein, alter Knabe, für mich ein bisschen zu durchgeknallt. Nettes Mädchen und alles. Sehr nett. Aber nicht gerade die Verschwiegenste.« Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was er meinte. Es war mir peinlich. Ich hatte Respekt verloren. Ja, es gab oft Zeiten, da wünschte ich mir, Julie
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