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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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Fremden geworden.
    Julie schwieg auf der Rückfahrt zum Heim. Hester und ich plauderten, wie um unsere Gedanken zum Schweigen zu bringen. Wie gesagt, es waren wohl ziemlich dieselben – über Julies Unschuld und Sehnsucht nach Glück, wie sie, trotz allem, wollte, dass diese Tage der Kindheit ewig weitergingen; wie sie, in ihren eigenen Worten, wollte, dass alle immer glücklich sind. Sie konnte nie verstehen, warum es nicht möglich sein sollte. Wie schwach ihre Erinnerung auch sein mochte, eins konnte ihr nie genommen werden, das Gefühl, wie es damals war, hier an einem warmen Sommertag zusammen mit ihrer Familie. Unschuld. Bevor die Lieder der Erfahrung erklangen und allmählich alles andere übertönten. Vielleicht.
    Hin und wieder drehten wir uns um und sagten etwas zu ihr, und sie lächelte uns an oder hatte zuvor schon gelächelt. Sie schien recht zufrieden zu sein, ihr Blick wirkte allerdings so abwesend wie immer – als würde sie etwas weit jenseits unseres Begriffsvermögens sehen. Vielleicht war es auch schlichte Freude, weil sie es endlich geschafft hatte, ein Steinchen über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. Damals wünschte ich mir, und ich wünsche es mir jetzt, dass ich zu irgendwelchen Urteilen oder Schlussfolgerungen kommen könnte – worin ich ja angeblich so gut bin. »Klugscheißer. Weiß auf alles eine Antwort«, warf man mir früher vor. Fryes ganz normales menschliches Leben liegt vorwiegend im Schatten, entzieht sich uns immer, doch manchmal gleitet es auch ins Licht.
    So ist es also. Wir werden weiter ab und zu mit Julie ans Meer fahren. Sheila wird mit uns kommen. Wir alle haben gesagt, dass wir irgendwie auch Mark gern dabeihätten. Eines Tages vielleicht. Die Currys haben ihre Zweifel. Mark ist ihnen sehr nahe. Auch das ist eine unzerstörbare Unschuld. Seine Erinnerung an Julie, als sie ihn als kleinen Jungen ins Heim mitnahmen, ist keine glückliche: eine bekloppte Frau mit einem komischen, leeren Blick in den Augen. Aber eines Tages? Natürlich. Es geht darum, dass die Wahrheit wichtig ist. Habe ich das schon gesagt? Die nicht so heilige Wahrheit. Nach der ich zu leben versucht habe. Und dabei oft versagt habe, wie es eben so ist.
    Die Currys sind einige Monate vor Marks Geburt weggegangen und mit ihm zurückgekehrt, so dass niemand wissen konnte, dass er adoptiert war. Sie wollten nicht riskieren, dass er es zufällig herausfindet. Er ist ihr Kind.
    Nächstes Wochenende werde ich wieder mit Julie zu Hester fahren. Nur ein oder zwei Tage. Hester will ihr ein besticktes Kissen abkaufen. Das ist der Zweck des Besuches, sage ich zu Julie. Sie erinnert sich an den letzten Aufenthalt bei Hester. Sie erinnert sich sogar an Henry und fragt, ob sie ihn wiedersehen kann.
    Hester hat sich von ihrem Krebs gut erholt. Ihr Leben geht seinen Gang. Wenn ich sie anrufe, reden wir nicht über Julie oder nur, um uns zu bestätigen, dass wir im Heim oder in der Werkstatt angerufen haben und es ihr gutgeht. Wir schicken ihr Bücher und CDs. Einmal im Monat besuchen wir sie gemeinsam. Schwester Boniface kommt immer zur Tür, um uns zu begrüßen, mit stets derselben unerschöpflichen Herzlichkeit. Dennoch kommen wir uns noch immer vor wie Eindringlinge, Besucher aus einer anderen, gröberen, raueren Welt.
    Bei meinem letzten Besuch brachte ich ihr eine Aufnahme von Mark, auf der er zusammen mit seinem Lehrer bei einem Auftritt des Schulorchesters das Bachsche Doppelkonzert spielt. Die Currys hatten mich gebeten, ihr die Aufnahme zu bringen. Soweit ich das beurteilen kann, wird er eines Tages ein sehr guter Musiker werden. Julie hörte es sich sehr konzentriert an, sie hatte die Augen geschlossen und trommelte leicht mit den Fingern. Als wäre ich gar nicht da. Wie gerne hätte ich ihr gesagt: »Julie, das ist dein Sohn, der da spielt.« Als sie zum Largo kamen, kullerten ihr die Tränen aus den Augen. Kurz dachte ich, sie würde sich an eine zerkratzte Schallplatte vor langer Zeit in den Rocky Mountains erinnern. Aber es war einfach die reine Schönheit dieser Passage. Ich sagte nur: »Wunderschön, nicht?« Sie erwiderte nichts. Ich bezweifle, dass sie mich überhaupt hörte. Wieder ging ich einfach.
    Und wenn auch nur auf diese Art, aber so können sich die beiden immer wieder vereinigen. Sie können sprechen und zuhören. Eine Gesamtheit der Kommunikation. Wie oft kann man das von irgendetwas sagen? Ohne Wissen. Etwas, das irgendwie sehr tief verstanden wird.
    Als ich dies Hester erzählte,
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