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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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stillen Frau ging, die über ihre Stickerei gebeugt saß, und ihr mit einem Auflachen sagte, sie solle sich ranhalten, damit wir alle einen Spaziergang machen könnten, um Appetit zu bekommen für ein wundervolles Abendessen … Wir konnten uns vorstellen, wie sie ihr auf die Beine half, sich bei ihr unterhakte und sie hinaus ins Licht führte. Wir konnten uns die alte Julie so gut vorstellen – dass sie eines Tages zurückkommen und sich entschuldigen würde, weil sie so ein Dummerchen gewesen sei, und dass das Leben wieder so werden würde wie früher, ohne den ganzen Unsinn.
    Hin und wieder schwelgen Sheila und ich in dieser Phantasie, während Julie allein mit ihren Büchern und der Musik und der Handarbeit dasitzt. Wir können uns, auch nicht für einen Augenblick, zu der Behauptung durchringen, dass sie nicht völlig zufrieden sei mit ihrem Leben.
    Sheila meint, das sei wohl das Ende der Fahnenstange. Experten waren konsultiert worden. Zwei haben sie besucht. Sie weigert sich, befragt zu werden. Oder genauer, sie schaut zum Fenster hinaus oder auf ihren Schoß und antwortet einfach nicht. Sie zeigt die Bilder in ihren Büchern, beschreibt mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit die Details. Da liegt auch eine gewisse Zuneigung und Dankbarkeit darin, aber irgendwie aus großer Distanz. Man hat uns gefragt, ob man vielleicht ihr Hirn »scannen« solle, aber das steht ganz außer Frage.
    Ich habe einen guten Freund, einen Neurologen, der ziemlich großspurig behauptet, dass wir, auf die eine oder andere Art, alle irgendetwas verdrängen. Wie viel gibt es doch, worüber wir lieber nicht nachdenken wollen: die Erinnerungen, die Verluste, die Kränkungen, das entsetzliche Leid der Menschen auf der ganzen Welt, den Tod selbst? Julie, sagt er, ist uns voraus in eine Welt gegangen, wo sie in Frieden leben kann. Sie lebt eine Art von jenseitigem Leben. Es ist voll unendlicher, unerschöpflicher Schönheit, in einer endlosen Welt der Phantasie mit ihrem unsäglichen Reichtum und ihrer Vielfalt. Was sie hinter sich gelassen hat, ist eine Welt ewiger Dunkelheit. (Er erinnert mich auch daran, dass die höchste Kunst koexistiert hatte mit dem äußersten Bösen. Er zitiert jemanden über die »Unverantwortlichkeit der Kunst«.) So weit, so gut. Und deswegen nicht gut.
    Ich rief ihn gestern an. Er sagte, dass viele Kollegen ihm nicht zustimmen, sondern darauf bestehen, dass völlige geistige Gesundheit und »Ganzheit« immer das Ziel sein müsse. Er sei aber überzeugt, dass man sie in Frieden lassen sollte. »Vergiss nicht«, sagte er, »sie hat einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, ein Leben, das nicht lebenswert war, aber sie wusste nicht, wie. Sie hat es auf ihre eigene Art getan. Aber das ist nicht mein Spezialgebiet«, fügte er ein wenig überheblich hinzu.
    So redet er über Julie. Sheila, Hester und ich versuchen ähnlich zu denken, aber das lindert unseren Kummer nicht. »Wie heißt es?«, fragte Sheila. »Die uns vorausgegangen sind, um uns den Weg zu bereiten?« Sie erinnert mich an ihre Mutter, die, auch wenn sie noch gut bei Kräften ist, sagt, ihr Mann wird sie sicher erwarten, um ihr mit den Formalitäten zu helfen. »Auch wenn sie natürlich kein Wort davon glaubt.« Julie soll uns voraus auf die andere Seite gegangen sein? Irgendwie kann ich das nicht glauben. Und Sheila auch nicht.
    Ebenso wenig Hester. Sie sagt, Julie muss noch einmal zu ihr kommen, sie auf ihren Runden begleiten, im Gemeindezentrum ein bisschen beim Kochen und Abwaschen helfen. »Dazu ist sie durchaus in der Lage«, sagte sie. »Warum denn nicht? Und außerdem hat Henry nach ihr gefragt. ›Wir brauchen frisches Blut in diesem gottverlassenen Laden‹, sagt er. Julie mochte ihn doch, meinst du nicht? Wenn ich sie das nur selber fragen könnte.«
    Die ersten Frühlingstage. Für ein oder zwei Tage konnte ich dem Wahnsinn der Wahlen entfliehen. Hester und ich fuhren mit Julie ans Meer. Schwester Boniface hat uns gesagt, dass das immer etwas ganz Besonderes für sie ist. Eines der wenigen Dinge, über die sie spricht.
    Wir gingen zu dem Strandabschnitt, wo wir an jenem Tag mit Mutter und Vater gewesen waren, und zwar auf dem Pfad, der vom Bahnhof dorthin führt, obwohl er nun überwuchert und eher zu erahnen als zu sehen ist. Als wir den Dünenkamm erreichten und aufs Meer hinausschauten, wartete Julie nicht auf uns, sondern lief durch den Sand ans Ufer. Hester fasste mich plötzlich am Arm und sagte: »Schau!« Es war die alte
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