Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
Vom Netzwerk:
nicht eilig mit der Rückkehr, und so waren wir vier Tage zusammen. Im Verlauf dieser Zeit vermissten wir Julie immer mehr, einfach weil sie nicht ebenfalls da war.
    Als ich sie an diesem Abend verließ, sagte Hester hastig, dass sie manchmal den übermächtigen Wunsch verspüre, Julie wiederzusehen, dass sie ihr Leben lang unzählige Male den Kopf gehoben und erwartet habe, sie durch die Tür kommen zu sehen, die Arme weit ausgebreitet für eine lange Umarmung.
    »Ich auch«, erwiderte ich.
    Aber das stimmte nicht. Schon vor langer Zeit hatte ich angefangen, sie überhaupt nicht mehr zu vermissen, mich sogar darüber zu ärgern, dass man es in einem Maße von mir erwartete, zu dem ich nicht fähig war.
    Nun umarmte sie mich kurz und sagte: »Du hast es nicht falsch gesehen, Johnny, aber zu der Zeit hätte ich das durchaus denken können. Und ich hätte etwas dagegen gehabt. Wir wissen, was es Julie angetan hat, aber was hat es uns angetan?«
    Als ich in der Dunkelheit zurückging und der Vollmond durch die kahl werdenden, im Wind schwankenden Äste schien, fragte ich mich, was sie eigentlich nicht gesagt hatte. Ich hatte zugegeben, dass sie und Julie mir schon jetzt immer weniger bedeuteten und dass das bald auch auf meine Mutter zutreffen würde. Kein Wunder, musste sie wohl denken, dass wir uns so weit voneinander entfernt hatten und dass es zwischen uns nicht mehr gegeben hatte als einige wenige Routineanrufe. Ihre letzte Frage ging mir lange nicht aus dem Kopf.

II
    Der Tag, an dem ich meinen Vater tötete
    Wir waren mit dem Zug unterwegs zur Küste. Julie hatte ihre Hand im Picknickkorb.
    »Behalt deine dreckigen Pfoten bei dir, du grässliches, kleines Biest«, sagte Vater und klatschte ihr auf die Hand. Aber es machte ihr nichts, weil es ja nur im Spaß war.
    »Ich wollte nur … du hast es doch erlaubt, nicht, Mummy?«, winselte sie.
    »Na ja, nur einen, Liebes …«
    Mutter zog eine Tüte Allsorts-Kekse heraus und gab uns je einen.
    »Bäh-Bäh! Und was ist mit mir armem Kleinen?«, wimmerte Vater, zog ein Schimpansengesicht und wischte sich mit dem Taschentuch die Augen.
    Julie kicherte, und Hester leckte an ihrem Keks und hielt ihn dann Vater hin.
    »Ah! Mmmm! Hesters Spucke.«
    Er nahm den Keks, kaute geräuschvoll und rieb sich den Bauch. Julie kicherte so sehr, dass sie ihren Keks ausspuckte.
    »Da muss ein Brief geschrieben werden«, verkündete er. »Lieber Mr. Allsorts. Ich schreibe Ihnen, um einen neuen Geschmack vorzuschlagen: Hesters Speichel.«
    »Ach, Harry!«, sagte Mutter. »Was kommt als Nächstes?«
    Sie spielte an ihrem Hals herum und lächelte uns abwechselnd an. Ich dachte mir: So viel Glück kann nicht anhalten. Mutter wartet immer, aber sie ist nie bereit. Julie lehnte an Vater, ihre Wange ruhte an seinem Arm. Sie hatte so viel gelacht, dass sie auf seinen Ellbogen gesabbert hatte, aber er bemerkte es nicht, denn er hatte die Augen geschlossen und intonierte mit weihevoller Miene: »O klaubt voll Wut mir Schrunden.« Mutter beugte sich vor und steckte Julie noch ein Allsorts in den Mund, zog sie zu sich und wischte ihr dabei flink den Sabber ab. In der Kirche blieb sie immer knien und sang zu laut, doch wenn er sich über ihren Glauben lustig machte, war er guter Dinge und durch nichts zu bremsen. Julie schaute, erschrocken über Mutters plötzliche Grobheit, zu ihm hoch.
    »Um Himmels willen«, sagte er. »Was ist denn falsch, wenn ich fragen darf, an ein wenig altmodischer familiärer Zuneigung?«
    Aber er ließ es darauf beruhen. Hester nahm die Brille ab und setzte ihre neue, erwachsene Miene auf.
    »Hester, du altes Popo-Gesicht«, sagte Vater und zwinkerte ihr zu. »Keiner dreht sich nach dir um, wenn du die Augen so zukneifst.« Hester versuchte zurückzuzwinkern. »Das ist schon besser. Dann schauen sie gleich noch mal hin. Was meinst du denn, wie ich deine arme, alte Mutter rumgekriegt habe?«
    Er warf Mutter einen Blick zu, aber sie erwiderte ihn nicht, vielleicht weil sie Angst hatte, dass in seinen Augen nichts mehr von der alten Komplizenhaftigkeit war, sondern nur noch verstimmtes Mitleid.
    Eine Weile schwiegen wir alle und schauten den Wolkenschatten zu, die über die Hügel zogen. Im Fenster sah ich das Spiegelbild meiner Mutter in einem Kreis aus Sonnenlicht. Sie lächelte, und ich dachte: Sie ist glücklich, vielleicht schwelgt sie aber auch nur in Erinnerungen. Hester und Julie saßen nun links und rechts von Vater, und er hatte die Arme um sie gelegt.
    »Meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher