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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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Schultern, um sie höher zu lagern, damit sie nicht erstickt, falls sie sich erbricht, und decke sie zu. Ich nehme mir einen Moment, um mich zu sammeln, gehe dann ins Wohnzimmer.
    Noah schaut von seinem Projekt auf. »Wie geht’s meiner Mom?«
    »Sie schläft.«
    Er nickt. Mit seiner geringen Lebenserfahrung hat er keine Vorstellung davon, wie sehr er sich sorgen sollte. Er weiß, dass seine Mutter sich große Mühe gibt, nicht so viel zu trinken. Manchmal kommt er abends in meine Wohnung, damit sie zu Treffen gehen kann. Dann geht sie tagelang überhaupt nicht vor die Tür. Er ist es gewöhnt, dass sie sich zu den absurdesten Zeiten hinlegt.
    Mir zieht ein Hauch Indol und Harnsäure in die Nase. Übersetzt: Scheiße und Pisse. Auf dem Tisch in der Ecke steht ein kleiner Plastikkäfig. Ich schiebe die Abdeckung zurück, greife hinein, lege meine Hand um ein zitterndes kleines Bündel, das sich in einem Haufen Sägemehl versteckt, und setze den Hamster in Noahs hohle Hände. Er fängt an, leise auf ihn einzureden, und reibt seine Wange am Fell des Nagers. Hi, Jerry. Geht’s dir gut, Jerry? Ich brauche ein Weilchen, um den Käfig sauber zu machen. Als Jerry von Noah wieder hineingesetzt wird, macht er sich ganz rund und wühlt sich in das frische Sägemehl, das verwirrenderweise nach süßen Pinien und beißendem Ammoniak riecht. Ich versuche mir vorzustellen, wie die billigen chemischen Zusatzstoffe auf seine winzigen Riechorgane wirken, und gelange zu dem Schluss, dass ihm der Geruch seiner eigenen Fäkalien wahrscheinlich lieber war. Ich bin überhaupt kein Freund der Idee, Tiere in Käfigen zu halten. Wäre er nicht ­Noahs Haustier, hätte ich ihn längst freigelassen.
    »Komm, Noah, ich lad dich auf einen Hamburger ein«, sage ich.
    *
    Thomasina und ich sind zusammen aufs Internat gegangen. Ich war von der siebten Klasse an auf der Gaston School: Es war eine der wenigen Schulen, die mein Vater Milosa gefunden hatte, wohin man so früh Kinder abschieben konnte. Sie lag in Boothbay, Maine, aber es fühlte sich an wie Tomsk, Sibirien; der Ort, von dem mir erzählt wurde, dass die russische Regierung um 1944 herum dort meine Großeltern mütterlicherseits aus den Augen verloren hatte. Meine Mutter starb, als ich zehn war, so alt wie Noah jetzt. Sowieso nie ein Engel, wurde ich zunehmend trotziger und verschlossener. Ich hörte einfach auf, die neugie­rigen Fragen der Erwachsenen zu beantworten und ihre hyste­rischen Warnungen zu befolgen. Zahlreiche von Milosas Freundinnen versuchten herauszufinden, was mit mir los sei, doch irgendwann gaben sie alle auf. Dann heiratete er wieder, und meine Stiefmutter Maureen verschwendete keine Zeit, sondern erklärte mich direkt und endgültig zu einem echten Problemkind. Zum Beweis, dass sie richtiglag, hatte sie stapelweise Bücher und brachte einen Doktor im Kinderkrankenhaus dazu, ihr zuzustimmen. Ein Internat mit viel »Struktur« sei genau das Richtige. Genau genommen war Rektor Richard (Dickhead) ­Bates nicht einmal annähernd das größte Arschloch an der Gaston School. Es gab noch viel sadistischere als ihn.
    Thomasina kam in der neunten Klasse nach Gaston, das Abfallprodukt einer bitteren Scheidung, nach der keiner der beiden Eltern das Sorgerecht wollte. Sie war magersüchtig dünn, tief gebräunt von einer Reise mit ihrer Mutter auf die Azoren, geschmückt mit silbernen Kreolen und Armreifen bis hoch zum linken Ellbogen. Und da sie immer noch Zahnspangen auf ­ihren großen, eckigen Zähnen trug, oben und unten, wirkte sie wie ein kleines braunes verhungerndes Tier, gefangen in einem Metallkäfig. Ihre Augen sahen ständig feucht aus, als könnten sie je­derzeit überschwappen, was allerdings nie geschah. Sie war viel zu skeptisch – und das dauerhaft –, um über irgendetwas eine Träne zu vergießen.
    Wir taxierten uns, erkannten uns als das, was wir waren, ­und akzeptierten, wovon wir annahmen, es sei unser düsteres Schicksal. Wir schwänzten; tranken Boone’s Farm, Budweiser und Lancer Rosé; kletterten über die hohe Steinmauer, von der die achtzehn Morgen Schulgelände umgeben waren, und spran­gen auf den geteerten Randstreifen der Route 27; fuhren per Anhalter in die Stadt. Wo immer wir hinkamen, bewiesen wir große Meisterschaft darin, so viele Leute anzupissen wie möglich. Nach zwei Jahren Entfremdung durch Abschottung tat es gut, jemanden zu haben, mit dem man sich gemeinsam Ärger einhandeln konnte.
    Nach dem Schulabschluss kehrte ich nach
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