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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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Neonbirne. Er versprüht so viel Selbstvertrauen und Charme, dass selbst der unscheinbare braune Anzug irgendwie adrett aussieht. Er begrüßt sein Studiopublikum und die Fernsehzuschauer zu Jared Jehobeth am Morgen . Die leicht zweideutigen Anspielungen des Titels lassen ihn noch nicht einmal blinzeln. Stattdessen leuchten seine Augen wie unschuldige blaue Luftballons, und mit seinem braunen Haarschopf und dem pinkfarbenen Rouge, das sie ihm auf die Wangen gepudert haben, sieht er so vertrauenswürdig aus wie ein Franziskanermönch. Aber er hat den Ruf eines knallharten Interviewers – er hat die Hersteller mangelhafter Produkte dem Gespött der Öffentlichkeit preisgegeben, hat prügelnde Ehe­män­ner und Väter, die ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen, dazu gebracht, zusammenzubrechen und ihre Familien um Verzeihung zu bitten.
    Er erklärt, heute habe er einen ganz besonderen Gast, eine junge Dame mit außergewöhnlichem Mut, die hier ist, um eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, die man kaum glauben kann. Es klingt so gut, dass ich einen Augenblick lang vergesse: Er spricht über mich.
    »Schaltet Survivors aus, Leute, denn das hier ist das echte Leben. Nach einer Kollision sank das Fischerboot, auf dem sie war; der Kapitän ist wahrscheinlich ertrunken; doch diese unglaubliche junge Frau trieb fast vier Stunden bei Wassertemperaturen von sechs Grad Celsius im Nordatlantik, bevor sie gerettet wurde. Soweit wir wissen, hat noch niemand je zuvor so etwas geschafft, meine Freunde. Die längste Zeit, die ein durchschnittlicher Mensch bei diesen Temperaturen überlebt, sind maximal ein bis zwei Stunden. Sie ist eine inspirierende Überlebenskünst­lerin, ein medizinisches Wunder und eine junge Frau, die sehr viel Glück gehabt hat!« Er wendet sich mir zu, mit Augen, die vor wohlwollender Bewunderung glänzen. »Ich danke Ihnen, dass Sie heute hier sind, Pirio Kasparov. Und nun erzählen Sie uns, was da draußen passiert ist.«
    Mein Hals zieht sich zusammen. Ich möchte am liebsten von der Bühne stürmen. Voller Entsetzen sehe ich ihn stumm und entschuldigend an.
    Er lässt ein winziges Anzeichen heftigster Verärgerung durchblicken.
    Ich sage die Wahrheit und weiß, es klingt wie eine Ausflucht. »Ich fürchte, an besonders viel kann ich mich nicht mehr er­innern.«
    Übertrieben ungläubig lehnt Jared Jehobeth sich zurück. »Sie sind von einem sinkenden Boot weggeschwommen und haben Stunden im eiskalten Wasser gepaddelt – und waren, wenn ich richtig informiert bin, immer noch bei Bewusstsein, als man Sie fand. Sie müssen sich doch an etwas erinnern!«
    Okay. Augen zu und durch. Ich nehme allen Mut zusammen, konzentriere mich, versetze mich zurück in den Moment. Unmittelbar, als hätte sie ein paar Meter von der Bühne entfernt gestanden und auf ihren Auftritt gewartet, erscheint eine breite Wand aus gestreiftem, grauem Wasser über mir, hebt sich, wölbt sich und beginnt zu fallen. Ich halte instinktiv die Luft an. In meinen Ohren ist ein grauenvolles Dröhnen, das so unvorstellbar entsetzlich ist, dass ich mein Leben geben würde, nur damit es aufhört.
    Anscheinend werde ich blass, denn Jared Jehobeth interveniert: »Erinnern Sie sich zurück an den Moment kurz vor dem Unglück. Was haben Sie gerade getan?«
    »Es fühlte sich an wie … nun, zuerst … stand ich am Heck. Mein Freund, Ned Rizzo –«
    »Der Mann, der starb. Er war Familienvater, richtig?«
    »Ja.« Ich hoffe, dass Noah nicht zuschaut. Er sieht nicht viel fern, und Jared Jehobeth ist nicht gerade seine Sendung, aber ich habe Thomasina gesagt, sie soll ihn heute Morgen auf jeden Fall von der Glotze fernhalten.
    »Ich habe die Ködertaschen der Hummerfallen gefüllt. Es war sehr neblig. Von dort, wo ich stand, konnte ich nur Ned im Ruderhaus sehen. Er hatte eine gelbe Öljacke an. Diese Sa­chen leuchten so, wissen Sie?« Ich schweife ab zu irrelevan­ten Details, zu allem, was mich davon abhält, nach vorn zu stürzen.
    Jared Jehobeth zwingt mich, ihn anzusehen, ähnlich einem visuellen Schwitzkasten. Seine Augen sind mitleidsvoll, gebieterisch. Wenn dieses Interview vorbei ist, werde ich ihn nie wiedersehen. Aber im Moment ist er so etwas wie ein bester Freund.
    »Ich habe mit dem Befüllen aufgehört, als Blut aus meinem rechten Daumen quoll. Die Scharniere an den Hummerfallen sind ziemlich scharf. Ich habe einen leeren Eimer am Seil über die Reling geworfen, habe Seewasser hochgezogen und meine Hand
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