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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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während der Frachter lautlos aus einer Nebelschwade in die nächste gleitet, ein riesiges schwimmendes Bollwerk aus Stahl.
    Jared Jehobeths dramasüchtige Blicke ignorierend, fahre ich mit der Geschichte fort: »Ich wurde gegen ein Brett getrieben. Ich ergriff es, schlang ein Ende zwischen meine Beine und legte mich lang darauf. Schließlich rollten die riesigen Bugwellen des Schiffes über mich hinweg. Ich ging unter und tauchte wieder auf. An diesem Punkt hatte ich die größte Angst, glaube ich.«
    »Hatten Sie Schmerzen?«
    »Nein. Unterkühlung tut nicht weh. Man wird schlapp und … schläft einfach irgendwie ein.«
    Jared Jehobeth hebt seine Krawatte an, streicht sie glatt und lächelt. »Nun, wir sind wirklich glücklich, Sie heute bei uns zu haben, Ms Kasparov. Jetzt erzählen Sie doch mal, wie es sich anfühlte, als Ihnen klarwurde, dass Sie gerettet wurden, dass Sie nach all dem, was Sie durchgemacht hatten, in Sicherheit waren.«
    »Ich wünschte, ich könnte diese Frage beantworten, aber von der eigentlichen Rettung weiß ich nichts mehr. Sie haben mir erzählt, ich wäre bei Bewusstsein gewesen, aber ich erinnere mich nur noch daran, nackt in einem Schlafsack aufgewacht zu sein, eingehüllt in die starken Arme eines sehr warmen, sehr lebendigen Mannes.«
    »Oh, wunderbar!«, sagt Jared Jehobeth, wird munter und zwinkert dem Publikum zu. »Der Austausch von Körperwärme ist ein anerkanntes Mittel gegen Unterkühlung. Waren Sie überrascht?«
    »Ich dachte, ich wäre gestorben und im Himmel.«
    Das Publikum bricht in Applaus aus, und ich könnte schwören, Jared Jehobeth zwinkert auch mir eine Nanosekunde zu, die Anerkennung von einem Schauspieler für den anderen. Ich grinse, ohne es zu wollen, und kann es selbst nicht fassen. Ich ziehe dieses Ding mit Bravour durch. Es fühlt sich ekelhaft an und wie im Rausch.
    »Tatsächlich befanden Sie sich im Helikopter der Küstenwache, auf dem Weg in die Sicherheit«, erklärt er. »Das ist wirklich eine phantastische Geschichte. Vielen Dank dafür, dass Sie sie mit uns geteilt haben. Meine Damen und Herren, Pirio Kasparov, eine echte Überlebenskünstlerin!«
    Das Publikum klatscht wieder begeistert. Ich kann jenseits der blendenden Scheinwerfer nichts erkennen, aber ich spüre, wie mir eine Woge der geballten Zuneigung entgegenschlägt. Was überraschend angenehm ist.
    Jared Jehobeth schwingt in seinem Stuhl herum, um in die Kamera zu schauen. »Bleibt bei uns, Leute. Nach einer kurzen Werbeunterbrechung sind wir gleich wieder zurück.«
    Die rote Lampe erlischt, wir sind nicht mehr auf Sendung. Jared Jehobeth fällt in sich zusammen wie ein Ballon. Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich über die Stirn. Die Regieassistentin taucht neben mir auf und begleitet mich von der Bühne zurück in den trist-grünen Raum, wo gerade der nächste Studiogast, ein Diätguru, hereingeführt wird. Sie bedankt sich, gibt mir meinen Mantel.
    »War’s das?«, will ich wissen.
    Sie lächelt gleichgültig. »Ja, Sie können jetzt gehen.«
    Minuten später stehe ich auf dem Parkplatz. Ein leichter Regen benetzt mein Gesicht. Ich fühle mich ein wenig, als hätte ich Helium im Hirn, ein bisschen unwirklich. Auf der einen Seite donnert der Verkehr über den Mass Pike, auf der anderen Seite ­ragen monströse Gewerbegebäude hoch auf. Ich fahre mit meinem zwölf Jahre alten Saab in die Stadt zurück und frage mich, ob jemand anrufen und einen Hinweis geben wird.

Kapitel 3
    A uf die hohe, mittelalterlich aussehende Fassade der Gate of Heaven Church in South Boston fällt ein feuchtkalter Schatten. Wenn man Gott nicht fürchtete, bevor man vor dieser Kirche stand, war das anschließend mit Sicherheit anders. Oder doch zumindest denjenigen, der so ein bedrohliches, unbarm­her­ziges Gebäude in Auftrag gegeben hatte. Trauernde mar­schie­ren in Reih und Glied durch die schweren beschlagenen Türen, klappen ihre Regenschirme zusammen und knöpfen ihre Trenchcoats auf. Es ist dieselbe Kirche, in der Noah getauft wurde; beim Eintreten erinnere ich mich an das weiße Marmorbecken neben dem weit entfernten Altar. Ich gleite in eine der hinteren Bänke und beobachte, wie Neds Freunde nacheinander hereinkommen.
    Man erkennt die Fischer an ihren roten, wettergegerbten Gesichtern. Einer von ihnen humpelt – vielleicht verletzt von einem herumfliegenden Haken oder weil er gegen ein Seitendeck gequetscht wurde. Die meisten von ihnen waren wahrscheinlich schon einmal bei einer
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