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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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Beerdigung ohne Sarg. Sie scheinen sich drinnen nicht sehr wohl zu fühlen, wo sie trockene Luft atmen und hinter ihren untersetzten, pragmatischen Frauen herstiefeln müssen.
    Neds Eltern, seine Schwester und sein Schwager mit ihren unbändigen Zwillingen sitzen bereits in der vordersten Bank. Genau wie Thomasina und Noah, allerdings auf der anderen Seite des Gangs. Neds Mutter Phyllis ist darüber wahrscheinlich entsetzt und wünscht sich, sie hätte den Bereich abgeriegelt, um Thomasina vom Rampenlicht fernzuhalten. Aber Tho­masina ist offensichtlich früh genug da gewesen, um sich den guten Platz zu sichern, bevor es jemand anderes tat, mit Noah an ihrer Seite, wie ein Maskottchen. Seht ihr? Das hier ist sein Kind, egal was ihr denkt. Sie trägt ein voluminöses schwarzes Cape mit ­einer Kapuze, das an Gevatter Tod höchstpersönlich erinnert oder an eine übertrieben fromme Nonne. Ich vermute, darunter trägt sie ein enges, halb durchsichtiges, vielleicht sogar mit Pailletten besetztes T-Shirt und eine noch engere Dreihundert-Dollar-Designerjeans. Außerdem würde ich darauf wetten, dass ihre Augen mit Eyeliner und haufenweise Mascara geschminkt sind, die, wenn sie weint, grauenvoll zerlaufen werden. In diesem Stadium ihrer Sucht ist sie außerstande, angemessene Schicklichkeit an den Tag zu legen, was nicht heißen soll, dass sie jemals gut darin war.
    Der Priester lässt alle warten und tritt dann von der Seite auf, wie ein Kirchen-Rockstar in einer üppigen lila Robe, der von einer Horde Messdiener in wehenden weißen Gewändern zum Altar geleitet wird. Er dreht uns den Rücken zu, hebt die Arme zu dem riesigen Kruzifix über dem Tabernakel, senkt sie im Gebet und geht dann weiter zu einem Rednerpult links vom Altar, wo er zu sprechen beginnt. Er hat ein Jungengesicht und eine klare, ruhige Stimme; ich versuche zuzuhören, aber es fühlt sich an, als hätte ich Watte in den Ohren. In Sachen Religion bin ich taub und kann nur nervös herumzappeln. Der Gottesdienst zieht sich ewig hin. Man würde ja annehmen, das Fehlen eines Leichnams würde die Sache etwas beschleunigen.
    Schließlich verlässt der Priester den Altar und schreitet mit flatternder Robe gebieterisch durch den Mittelgang. Thoma­sina und Noah schließen sich ihm schnell an. Neds Eltern, seine Schwester und ihre Familie sind gezwungen, in ihrem Kiel­­­wasser zu folgen. Thomasina überrascht mich mit ihrer feier­li­chen Haltung und Würde; wenn’s drauf ankommt, ist sie in der Lage, auf ihre tadellose Oberschichtserziehung zurückzugreifen. Es ist Phyllis, die ein rotes Gesicht hat, schwankt und sich die ­Augen tupft. Wir Trauernde lassen sie passieren, machen ­ihnen reichlich Platz. Die Familie des Verstorbenen bildet einen inneren Kreis der Trauer, den jeder respektiert … und meiden möchte.
    Hintereinander verlassen die Leute die Bankreihen. Ich bleibe zurück, zögere seltsamerweise zu gehen. Ich hatte mir von diesem Gottesdienst etwas versprochen. Vermutlich so was wie Trost. Ich habe ein Bild von Ned vor Augen, wie er, mit gläsernem Blick und aufgedunsen, dicht über dem von Trawlern durchpflügten Meeresboden treibt, wobei ihm in der Strömung das Haar um den Schädel wedelt wie Seegras, und einer der Hummer, die er fangen wollte, trudelt über seine orangefarbene Steppweste.
    Mein Blick streift blind über die bemalten Statuen der Hei­ligen, die flackernden roten Votivkerzen, den holzgeschnitzten Kreuzweg. Alles dazu gedacht, die Menschheit mit Leid und Tod zu versöhnen. Ich wünsche mir von Herzen, die schrägen Mythen der Religion würden bei mir funktionieren, doch das tun sie nicht. Dennoch kann ich mich im Moment nicht losreißen. Was, wenn mir etwas entgeht, ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe? Was, wenn ich mich irre?
    Ich schaffe es, mich zusammenzureißen, und schließe mich den letzten Nachzüglern an, die in das marmorne Foyer strömen. Am Eingang herrscht Tumult. Wegen der vielen Leute kann ich nichts sehen, doch ich höre zunächst laute Stimmen und dann, mit einem zunehmend unguten Gefühl, Thomasinas Gekreische.
    »Was machen Sie denn da? Lassen Sie mich los!«
    Ich dränge mich durch die Menge nach vorn, und das Erste, was ich sehe, ist Phyllis, die starr und vor Wut schäumend Thomasina und Noah den Ausgang versperrt. Sie trägt einen kleinen, runden Hut, einen dunklen Mantel und dunkle Pumps; sie hat krause, mit Haarspray fixierte Locken. Sie wirkt wie eine Frau, die hart gearbeitet, viel entbehrt,
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