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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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angefühlt, das Bild seines verstorbenen Vaters im Fernsehen zu sehen.
    »Möchtest du wissen, wie es passiert ist, Noah?«
    »Okay.« Er hat gelernt, entgegenkommend zu sein.
    »Es war ein Zusammenstoß, so wie auf der Autobahn, nur dieser hier war auf dem Meer.«
    »Das weiß ich doch schon.« Er tunkt eine Fritte in ein Papiereimerchen mit Ketchup, um zu zeigen, wie wenig interessant es ist.
    Natürlich. Er weiß alles über Zusammenstöße; er hat Tausende im Fernsehen gesehen. Funken fliegen, Gebäude fallen in sich zusammen, Autos gehen in Flammen auf. Echt ö-de .
    Ich ziehe das Papiertischset unter dem Teller hervor, auf dem mein Sandwich liegt, und drehe es um. Mit einem von der Kellnerin geborgten Kuli zeichne ich die Küstenlinie, von Cape Cod bis Maine. Ich zeichne die Inseln im Boston Harbor ein und schraffiere grob die Erhebung von Georges Bank. »Dein Dad und ich waren hier«, erkläre ich und zeige auf einen Punkt, der ungefähr fünfundzwanzig Meilen nordöstlich von Boston liegen soll. »Es kam dichter Nebel auf. Dein Dad stand am Ruder, ich war am Heck und habe Köder in die Hummerfallen getan. Es war alles ganz ruhig. Ich konnte noch nicht einmal den Bug sehen. Als Nächstes erinnere ich mich daran, dass etwas Großes in uns hineinkrachte. Riesig, Noah. Ein Frachter. Er traf uns steuerbord, volle Breitseite. Das bedeutet, genau in der Mitte. Ich bin gesprungen, und als ich wieder an die Wasseroberfläche kam und mich umschaute, sah ich das zersplitterte Boot deines Dads und den Frachter, der weiterfuhr.«
    »Mein Dad ist weggeschwommen, so wie du.«
    »Die Küstenwache hat an dem Tag fünf Stunden nach ihm gesucht, bis die Sonne unterging, und am nächsten Tag vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Sie hatten zwei Pa­trouillenboote, zwei Hubschrauber und ein Suchflugzeug, eine C-130. Eine Suche von fast zwanzig Stunden, Noah. Ein paar Fischer waren auch da draußen – Freunde von deinem Vater. Sehr viele Leute waren dabei. Sie haben von dort, wo ich gefunden wurde, einen Radius von acht Meilen abgesucht.«
    »Cool«, sagt er. Sein Blick ist leer, als wäre das, was ich sage, nicht wirklich real.
    »Sie haben ihn nicht gefunden, Noah.«
    »Er ist davongekommen, genau wie du. Er ist weggetaucht.«
    »Er hätte irgendwann wieder auftauchen und Luft holen müs­sen.«
    »Nicht, wenn er nach Atlantis geschwommen ist.«
    »Atlantis gibt es nicht.«
    »Gibt es doch.« Vorwurfsvoll sieht er mich an.
    Ich passe auf ihn auf, seit er klein war. Ich bin seine Gute-Fee-Patentante, die mit ihm Spiele spielt und ihn bereitwillig auf Phantasiereisen begleitet; und die ihm nie sagt, er solle vernünftig sein oder seine Zähne putzen. So kennt er mich noch nicht.
    Ich warte ab.
    Noah tunkt eine weitere Fritte in den Ketchup. Er zieht sie einige Male über die dünne Pappe der Hamburger-Schachtel, was rötliche Streifen hinterlässt. Vielleicht schreibt er Hieroglyphen und versucht, so zu kommunizieren. Wenn das der Fall sein sollte, bin ich wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der noch versuchen würde, sie zu entziffern.
    »Ein Monster hat meinen Dad getötet«, versucht er zu er­klä­ren.
    »Er ist ertrunken, Noah«, sage ich sanft. »Er ist fort.«
    Wütend zieht er die Augenbrauen zusammen, seine kleinen Nasenlöcher flattern. »Warum ist das Boot in ihn reingekracht? Warum haben sie nicht aufgepasst, wohin sie fahren?« Das hatte man ihm hundert Mal gesagt. Pass auf. Nicht rennen. Guck hin, was du tust. Aber er hat bereits herausgefunden, dass sich Erwachsene nicht an ihre eigenen Regeln halten.
    »Es war ein Unfall, Noah. Zusammenstöße auf dem Meer kommen häufiger vor, als man denkt.« Ich könnte mich dafür treten, dass es sich so banal anhört.
    »Warum haben die Leute nicht angehalten, um nach ihm zu suchen?«
    »Gute Frage«, sage ich und versuche, Zeit zu schinden.
    Ich fühle mich so hilflos, dass ich verzweifle. Ich will nicht, dass Noah meine Wut sieht. Hätte der Kapitän den Frachter direkt gestoppt, gleich nachdem er gemerkt hatte, was passiert war, hätte er uns beide problemlos retten können. Aber das tat er nicht. Er fuhr einfach weiter. Wollte sich wahrscheinlich die offiziellen Ermittlungen ersparen und den möglichen Schaden, den sein Ansehen deswegen nehmen könnte.
    Aber das kann ich Noah nicht sagen. Also gebe ich ihm die naheliegende Antwort. »Die Küstenwache ermittelt. Sie werden die Leute und das Boot finden und ihnen genau diese Frage stellen.«
    Er sieht mich
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