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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror
Autoren: Elisabeth Elo
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mit den müden, ratlosen Augen eines enttäuschten Mannes an. Er weiß, dass ich etwas verschweige.
    »Es ist möglich, dass die Leute auf dem Boot noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie uns gerammt haben«, sage ich. »Der Frachter war ungefähr hundertfünfzig Meter lang und wog ich weiß nicht wie viele Tonnen. Doppelter Stahlrumpf. Die Brücke war fast drei Stockwerke hoch. Und welchen Sinn hat es schon, bei diesem Nebel überhaupt Ausschau zu halten? Sie verlassen sich bei so einem Wetter auf ihr Radargerät. Aber der Ozean ist groß, und damit hatten sie nicht gerechnet. Wenn sie dann so etwas Kleines wie den Hummerkutter deines Vaters sehen, dann denken sie vielleicht, es ist nur Zeugs, das im Meer treibt, zum Beispiel Ölfässer oder irgendwelcher Müll.«
    Noahs Lippe zittert. Er versucht, nicht zu weinen. Tränen sind bei ihm so selten, dass die Aussicht, auch nur eine fallen zu sehen, mir in der Seele weh tut.
    Aber er fängt sich wieder, schaut aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind ein Lampenladen, ein Walgreens und ein indisches Lebensmittelgeschäft. Weiter die Straße hinunter gibt es einen Park mit einem Spielplatz, wo er oft mit seinem Dad hingegangen ist und manchmal auch mit mir. Als kleines Kind mochte er die Schaukel, aber die Rut­sche nicht. Auf der Schaukel konnte er die Augen nach unge­wöhn­­lichen Ereignissen offen halten, die Rutsche war zu verwirrend.
    Ich frage mich, was er wohl denkt. Vielleicht, dass die Welt ein ungerechter und gefährlicher Ort ist, nur, dass er keine Worte dafür hat. Vielleicht denkt er auch überhaupt nicht und saugt nur alles auf. Autos, Schiffe, Nebel. Betrunkene Mütter, ferne Väter. Zusammenstoß. Ich wünschte, ich hätte nicht gesagt, dass man das Boot seines Vaters vielleicht mit Müll verwechselt hat.
    Ich zeichne ein Schiff, das aussieht wie die Molly Jones . »Da gibt es noch etwas Wichtiges, das du wissen sollst. Dein Dad hätte vielleicht über Bord springen und wegschwimmen können, so wie ich. Aber wenn er das getan hätte, wären wir beide gestorben, weil keiner gewusst hätte, dass wir da draußen waren. Also blieb dein Dad im Ruderhaus und hat die Küstenwache gerufen.«
    Noah starrt mich an, und es fällt mir schwer, ihm in die Augen zu sehen.
    »Dein Dad hat mir das Leben gerettet.«
    Noah runzelt die Stirn. Langsam hebt er seinen Hamburger hoch. »Wollte er dich heiraten?«
    »Nein. Wir waren nur Freunde.«
    »Warum?«
    »Warum wir Freunde waren?«
    »Warum wollte er dich nicht heiraten?«
    »Wollte er einfach nicht. Zu heiraten ist etwas Besonderes. Wir waren froh, einfach Freunde zu sein.«
    »Warum haben Mom und Dad nicht geheiratet? Waren sie auch nur Freunde?«
    Jetzt wird’s knifflig. Ich erkläre ihm, dass sie mal mehr als nur Freunde waren und dann Freunde wurden.
    Er legt auf den Teller, was von seinem Hamburger übrig ist, nimmt die obere Brötchenhälfte ab, pult eine Scheibe eingelegte Gurke aus dem Senf-Ketchup-Matsch und legt sie sorgsam an den Rand der Verpackung. »Wenn du und Dad geheiratet hättet«, sagt er, ohne aufzusehen, »wärst du jetzt meine Stiefmutter.«
    Daran erkenne ich, wie weh es ihm tut; so etwas hat er noch nie zu mir gesagt. Ich nehme mir Zeit, bevor ich antworte: »Ich bin nicht fürs Muttersein gemacht, Noah. Aber wenn ich von jemandem die Stiefmutter sein müsste, dann wollte ich deine sein.«
    Er sieht mich mit so viel Vertrauen an, wie man jemandem nur schenken kann, und ich denke drei Wörter, die ich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr benutzt habe. Ich liebe dich. Ich würde sie ihm sagen, doch ich fürchte, ich kann nicht halten, was die Worte versprechen.
    Noah kramt etwas aus seiner Jackentasche. Es ist eine gelb-weiße Scheibe, durchsiebt von kleinen Adern und Löchern. Fünf Zentimeter im Durchmesser, gut zwei Zentimeter dick, die Ränder glatt wie Glas.
    »Das ist schön«, sage ich. »Woher hast du es?«
    »Von Dad. Er hat mir auch andere Sachen geschenkt.«
    »Wo hat er es her?«
    »Von einem Wal.«
    »Das hat er dir erzählt?« Es sieht vage so aus, als könne es von einem Tier stammen, aber ich habe noch nie so einen Knochen gesehen. Ich vermute, es handelt sich um eine Art Stein. Offensichtlich ist er geschnitten worden und scheint auch poliert worden zu sein.
    Noah beugt sich vor. »Mein Dad hat mal gegen einen Wal gekämpft«, flüstert er. »Er ist in ein kleines Boot gestiegen und ist ihm gefolgt und hat ihn mit einer Harpune getötet. Der Wal ist
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