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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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mir nun erzählen?«
    »Ach …« Sollte ich es tun? Ich muss es nicht mehr, nachdem Gladys Wycombs Tod mir die Enthüllung erspart hat, aber ich könnte es. Wo liegt die Grenze zwischen der Verpflichtung, eine längst überfällige Wahrheit zu erzählen, und dem egozentrischen Wunsch, mir etwas von der Seele zu reden? Es wäre nicht richtig, es Ella zu erzählen, scheint mir, es würde sie nur verstören – nicht nur wegen ihrer religiösen Überzeugungen, sondern auch, weil sie (ich kenne Ella, und ich war ja selbst ein Einzelkind) dann glauben könnte, sie hätte einen älteren Bruder oder eine Schwester haben können. »Ist schon gut«, sage ich.
    Ella beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Dann werd ich jetzt mal Wyatt anrufen. Sag Dad, wenn er kommt, dass ich ihm einen saukomischen Clip auf Youtube zeigen will.«
    Ich gebe ihr einen Klaps auf den Hintern. »Räum aber deinen Teller in die Spüle.«
    Nachdem Ella gegangen ist, gehe ich in die West Sitting Hall hinüber, durch deren wunderschönes bogenförmiges Fenster man das Old Executive Office Building, den Rosengarten und den West Wing sehen kann. Ich setze mich auf ein Sofa und bleibe dort anderthalb Stunden lang, um zu lesen. Das Buch, das ich gestern hier zurückgelassen habe,
Alle Zeit der Welt
von Frank Conroy, liegt dort seit vierundzwanzig Stunden, seit einer ganzen Nacht und einem ganzen Tag, an dem ich von Arlington nach Chicago und nach Riley unterwegs war. Ich öffne es, und es nimmt mich sofort wieder gefangen.
    Kurz vor elf lege ich das Buch wieder weg und stehe auf, und in dem Moment fällt mir der Briefumschlag wieder ein, den Pete Imhof mir gegeben hat und der noch immer gefaltet in der Tasche meines Leinenjacketts steckt. Ich hole ihn heraus, und bevor ich hineinsehe – der Umschlag ist nicht verschlossen, sondern offenbar aufgerissen worden –, fällt mein Blick auf die Rückseite, auf der in meiner eigenen siebzehnjährigenHandschrift steht:
Mr. und Mrs. Imhof
. Ich begreife sofort, was das ist, und befühle mit dem Daumen den kleinen asymmetrischen Buckel im Papier, um mich zu vergewissern. (Wie winzig es ist! An der dicksten Stelle misst es kaum mehr als einen halben Zentimeter.) Dann ziehe ich den Zettel heraus.
    Ich werde niemals in Worte fassen können, wie leid es mir tut
, erklärt mein siebzehn Jahre altes Selbst in blauer Tinte.
Ich weiß, ich habe Ihnen großes Leid zugefügt. Ich würde alles dafür geben, das Geschehene wieder ungeschehen machen zu können. Dieser Anhänger ist von mir. Andrew hat mir einmal gesagt, dass er ihm gefalle, und ich dachte mir, vielleicht kann er Ihnen ein wenig Trost spenden.
    Mein Puls rast, als ich das Schmuckstück aus dem Umschlag nehme. Es ist stark angelaufen – ich werde es nie polieren –, und ich betrachte es, wie es da auf meiner Handfläche liegt: mein silbernes Herz. Es ist dasselbe, das Andrew an jenem Nachmittag berührt hat, bevor er zum Footballtraining ging, und dasselbe, das meine Großmutter mir an meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. (Ach, die Vergangenheit – wie mich die Erinnerung an die, die ich geliebt habe, schmerzt!)
    Ich weiß noch nicht, was ich mit dem Anhänger tun soll – es ist offensichtlich kein teures Stück und nicht besonders passend für eine einundsechzigjährige Frau, schon gar nicht für eine First Lady, aber vielleicht kann ich ihn an einer so langen Kette tragen, dass er unter meinen Blusen verborgen bleibt. Es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen Gegenstand, der mir kostbarer wäre, und mir will nicht aus dem Kopf, auf welchen merkwürdigen Wegen er zu mir zurückgekehrt ist. Vielleicht war es das, was mich dazu gebracht hat, mit Edgar Franklin zu reden, obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch gar nichts davon wusste – dass Pete Imhof mir mein Herz zurückgegeben hat.
     
    Charlie treffe ich auf dem Flur vor unserem Schlafzimmer wieder. Er kommt mir entgegen, und ich spüre, dass er überlegt, wie freundlich oder unfreundlich er sich verhalten soll. Alssich unsere Blicke treffen, sieht er gleich wieder weg und scheint dann selbst zu merken, wie absurd es wäre, so zu tun, als hätte er mich nicht gesehen. Ein Hausangestellter wartet vor der Schlafzimmertür und öffnet sie, als wir uns nähern. Er nickt Charlie zu und sagt: »Gute Nacht, Mr. President«, und zu mir: »Gute Nacht, Ma’am.«
    »’Nacht, Roger«, sagt Charlie im Vorübergehen, und ich lächle ihm schweigend zu.
    Sobald sich die Tür hinter uns
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