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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin
Autoren: B.C. Schiller
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Herz.

    Schluchzend liege ich im Bett und weiß nicht, warum ich plötzlich ständig heule. Es stimmt schon, meine Periode ist ausgeblieben, aber das ist mir schon öfter passiert. Das ist alles kein Grund, gleich in Tränen auszubrechen. „Das hängt mit Ihrem stressigen Job zusammen, Frau See! Immer diese jungen dünnen Models, mit denen Sie zu tun haben!“, hat mein Frauenarzt gesagt und ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, ob er denke, dass ich in einem Konkurrenzverhältnis zu den Models stehe. „Alle Frauen stehen doch zueinander in einem Konkurrenzverhältnis, das ist wissenschaftlich belegt!“ Er muss es ja wissen. Als Doping hat er mir Hormonpillen verschrieben, die ich aber in den Müll gekippt habe, als ich auf dem Beipackzettel las, dass man davon Depressionen und Fressattacken bekommen könnte.
    Um mich abzulenken, checke ich mein Smartphone, habe aber heute leider keinen Fototermin. Das ist andererseits gut so, denn es gibt Wichtigeres zu tun. Beispielsweise meinen Liebhaber anzurufen, um mich zu überzeugen, dass er noch am Leben ist. Mehrmals probiere ich, Talvin zu erreichen, doch anscheinend habe ich eine falsche Nummer eingespeichert, denn es existiert kein Anschluss unter dieser Nummer. Ich könnte natürlich auch versuchen, ihn an der Universität zu erreichen, aber das hat er mir ausdrücklich untersagt. Das würde doch bloß Gerede geben, war seine logische Argumentation.
    ‚Ich muss mich zusammenreißen!‘, ermahne ich mich und blicke aus dem Fenster unseres engen Reihenhauses hinaus in den Garten. Es ist ein trüber Morgen und der Himmel sieht nach Regen aus. Moment mal! Wieder fällt mir ein Bruchstück der Erinnerung ein, fügt sich zu den anderen Fragmenten, wie ein riesiges Puzzle, dessen endgültiges Motiv ich aber noch immer nicht überblicken kann. Es existieren zu viele Leerstellen.
    Das Wohnzimmer meines Liebhabers mit der riesigen ostseitigen Glasfront, die hinaus auf die Terrasse führt, taucht vor meinem geistigen Auge auf. Das grelle Licht blendet mich, es muss also die Morgensonne geschienen haben! Wenn es aber auch jetzt Morgen ist und bewölkt, dann heißt das doch, dass ich mindestens vierundzwanzig Stunden lang ohnmächtig gewesen bin. Oder dass ich solange geschlafen habe. Das ist doch der totale Wahnsinn.
    Denn die andere Möglichkeit ist auch nicht wesentlich beruhigender: Ich habe mir gestern am Morgen tatsächlich den Kopf an der Heckklappe gestoßen, wurde zunächst ohnmächtig, bekam dann die Spritze und habe daher alles nur geträumt.
    Warum verschaffe ich mir nicht einfach Klarheit und fahre in die Wohnung meines Liebhabers? Warum liege ich völlig aufgelöst in meinem Bett, nur weil mein Mann etwas über meine Tage gesagt hat. Warum beschäftigt mich das so? Natürlich weiß ich, warum das so ist. Ich rolle mich zur Seite und nehme den Bilderrahmen vom Nachttisch. Das Foto ist fünf Jahre alt und Gregor sieht rassig wie ein Spanier aus und auch ich muss mich für mein Aussehen nicht genieren. Das Foto habe ich mit Selbstauslöser gemacht. Kurz bevor ich zum ersten Mal bei Hans – bei Dr. Mertens, wie ich ihn nennen muss – in psychiatrischer Behandlung gewesen bin. Es wurde am 15. August im Hotel Mykonos Blue auf Mykonos gemacht. In der Lobby mit den blau beleuchteten Flaschen im Hintergrund. Es war circa sechzehn Uhr. Eine Stunde später war alles anders. Wir waren übrigens nie wieder auf Mykonos.
    Gregor wollte eigentlich wie jedes Jahr ins Weiße Rössl an den Wolfgangsee, obwohl er das Regenwetter im Salzkammergut hasste. Doch für einen österreichischen Politiker gehört es sich eben, Urlaub in der Heimat zu machen. Das honorieren die Wähler. Aber dieses eine Mal habe ich mich durchgesetzt und wir sind nach Griechenland geflogen. Gregor, ich und ja, natürlich auch Paul.
    „Paul!“
    Es ist unheimlich beklemmend, als ich den Namen meines Sohnes laut ausspreche und darauf warte, dass sich der Klang des Wortes auflöst. Er klingt fremd und ungewohnt nach so langer Zeit und dann doch wieder nicht. Fünf Jahre sind viel, doch nichts im Vergleich mit einem Menschenleben. Ich drücke die Rückseite des Bilderrahmens an meine Wange, dort hinten ist Paul verborgen und nur ich weiß davon. Gregor darf nie erfahren, dass ich noch ein Bild von ihm habe. Wenn er das wüsste, würde er mich umbringen, da bin ich mir sicher. Obwohl, das wäre mir an manchen Tagen auch egal. Diese Tage kündigen sich an und sind alarmierend. Ich sehe mich an einem Abgrund
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