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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin
Autoren: B.C. Schiller
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ich war im Begriff, ihn zu erobern.
    Das ist jetzt schon einige Monate her und wenn ich jetzt wieder daran denke, dann nur aus dem einzigen Grund, herauszufinden, ob mir damals schon etwas Ungewöhnliches an Talvin aufgefallen ist. Als Fotografin habe ich mir ein visuelles Gedächtnis antrainiert, das ich beliebig nach Bildern ordnen kann. Also ließ ich die Schnappschüsse wie eine Fotogalerie durch mein Gedächtnis laufen. Doch bei Talvin war alles eine Einheit und so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Widersprüche in seinem ganzen Wesen entdecken.
    Damals, als ich ihn im Sucher hatte, kam ich mir vor wie eine Jägerin, die ihre Beute bereits im Visier hat und nur darauf wartet, sie zu erlegen. Jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, einfach abzudrücken und eine Fotoserie von diesem interessanten Mann zu schießen, dann wieder auf das Fotoset zurückkehren und so zu tun, als sei nichts geschehen, als hätte diese Jagd nie stattgefunden. Doch irgendetwas hinderte mich daran. Ich wollte dieses schöne Tier ganz für mich und es mit niemandem teilen, deshalb durfte es auch keine Fotos geben.

    Plötzlich hatte ich Talvin aus dem Sucher verloren und die Erkenntnis war so frustrierend, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich zoomte auf, drehte mich im Kreis, zoomte in jede Gasse, fokussierte ungeniert wildfremde, schwarzhaarige Männer, doch Talvin blieb verschwunden. Ich lief durch enge Torbögen, das schwere Teleobjektiv vor mir wie eine Waffe, raste über Plätze, umrundete Brunnen, an denen fröhliche Menschen saßen, die sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen, doch mir war nicht zum Lachen zumute. Kraftlos ließ ich die schwere Kamera sinken, die schwer wie ein Mühlstein an meinen Hals hing und mich gleich in einen Abgrund reißen würde. Damals hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand das Herz herausreißen und ich war nahe daran, vor Wut und Enttäuschung zu kotzen.
    „Warum verfolgen Sie mich?“
    Ich wirbelte herum und da stand er direkt vor mir. Er war ein wenig kleiner als ich, wirkte aber durch die aufrechte Haltung größer und der hochmütige Zug um seinen Mund verlieh ihm die Aura eines Prinzen. Sein schwarzes Haar glänzte metallen in der Sonne und als er seine Sonnenbrille nach oben schob, sah ich zum ersten Mal seine langen dichten Wimpern, die mich mehr beeindruckten als die haselnussbraunen Augen. Reflexartig wollte ich seine hellbraune Wange streicheln, riss mich aber dann doch zusammen.
    „Ich verfolge Sie nicht, ich jage Sie!“, sagte ich und wunderte mich darüber, dass ich sofort so offenherzig meine Geheimnisse vor ihm ausbreitete. Doch in diesem Augenblick war mir nichts peinlich. „Mein Psychiater sagt, dass ich die Menschen mit meiner Kamera jagen soll und abdrücken muss, um mich zu überzeugen, dass sie existieren. Ich darf jedoch niemandem von dieser Therapiemethode erzählen. Aber Sie sind nun einmal ein Bestandteil dieser Therapie!“
    „Das könnte aus einem Stück von Tagore sein!“ Er war kein bisschen erstaunt über meine peinliche Offenherzigkeit, sondern lächelte mich zum ersten Mal an und seine ebenmäßigen Zähne strahlten aus seinem glatten braunen Gesicht.
    „Tagore?“, fragte ich verwundert und ärgerte mich sofort über diese dumme Frage und meine Ungebildetheit.
    „Rabindranath Tagore, ein indischer Philosoph“, erwiderte er gleichgültig. „Mein Großvater hat ihn sehr geschätzt. Ist nicht so wichtig! Ich heiße Talvin.“ Als er mir die Hand hinstreckte, wusste ich schlagartig, dass ich sie nicht ergreifen durfte, denn dann wäre ich unweigerlich verloren, dann würde ich in eine Falle gehen.
    „Ich bin Adriana“, sagte ich und griff nach seiner dunklen Hand, deren sehnige Finger sich blitzschnell über meine weiße Haut legten und sofort Besitz von mir ergriffen.
    „Dein Handy!“ Talvin machte eine Kopfbewegung in Richtung meiner Tasche, in der mein Handy ununterbrochen klingelte.
    „Ist nicht weiter wichtig“, flüsterte ich und wünschte mir in diesem Augenblick nur, er würde meine Hand nie wieder loslassen.
    „Hübsche Kamera hast du da. Ist ja ein richtiges Profigerät!“ Talvin nickte anerkennend zu meiner Nikon, die noch immer schwer an meinem Hals hing. Ich hätte Talvin damals fotografieren müssen, so wie Dr. Mertens mir das aufgetragen hatte, aber ich war dazu nicht in der Lage. Ich dachte auch nicht an den fünf Jahre zurückliegenden Zwischenfall in Schweden. Ich dachte überhaupt nicht, sondern schwebte in
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