Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Flucht

Titel: Die Flucht
Autoren: Patrick Ness
Vom Netzwerk:
Osten der Stadt fließt er durch einen Talkessel, er kommt von Norden, führt an unserer Farm vorbei und an der Stadt, wird dann immer breiter und morastiger, bis er allmählich in Sumpfland übergeht. Mann sollte sich besonders von dem Teil fernhalten, der dem Sumpfwald vorgelagert ist, denn dort gibt es Krokodile, die so groß sind, dass sie spielend einen Beinahe-Mann samt seinem Hund umbringen können. Die Zacken auf ihren Rücken sehen aus wie Schilf, und wenn du ihnen zu nahe kommst – ZACK! – schießen sie aus dem Wasser, werfen sich mit gespreizten Klauen und weit aufgerissenem Maul auf dich und du hast nicht die geringste Chance mehr.
    Wir lassen das morastige Ufer hinter uns, und ich versuche die Stille des Sumpfes in mich aufzunehmen. Hier unten gibt es gar nichts mehr zu sehen, wirklich gar nichts, das ist auch der Grund, warum niemand hierherkommt. Und wegen des Gestanks. Ich behaupte ja gar nicht, dass es hier gut riecht, aber es ist längst nicht so schlimm, wie die Leute tun. Sie riechen ihre Erinnerungen und nicht, wie es jetzt hier ist, sie haben den Gestank der Vergangenheit in der Nase. Den Gestank der Toten. Die Spackle und die Menschen hatten nämlich unterschiedliche Vorstellungen davon, wie jemand begraben werden sollte. Spackle gingen in den Sumpf, warfen ihre Toten einfach ins Wasser und versenkten sie, kein Wunder, sie waren geschaffen dafür, im Sumpf beerdigt zu werden. Sagt jedenfalls Ben. Wasser und Dreck und die Haut der Spackle passen gut zusammen, nichts wurde verschmutzt, sie düngten nur den Sumpf, so wie Menschen die Erde düngen.
    Doch dann gab es auf einmal viel mehr Spackle, die beerdigt werden mussten, mehr, als selbst ein Sumpf dieser Größe verdauen konnte, und es ist wirklich ein verdammt großer Sumpf. Und dann gab es plötzlich gar keine lebenden Spackle mehr. Nur Berge von Spackle-Körpern, die sich im Sumpf auftürmten, verwesten und stanken, und es dauerte lange, bis der Sumpf wieder ein Sumpf war statt eines Durcheinanders aus Fliegen und Gestank und wer weiß welchen Krankheitskeimen, die die Spackle uns sonst noch zurückgelassen haben.
    In diese wirre Zeit bin ich hineingeboren worden, in den überfüllten Sumpf und den überfüllten Friedhof und in die Stadt, in der zu wenige Menschen leben, aber ich erinnere mich nicht mehr daran, ich erinnere mich nicht mehr an eine Welt ohne Lärm. Mein Pa starb an einer Krankheit, noch bevor ich auf die Welt gekommen bin, und dann starb auch meine Mutter, was natürlich kein Wunder ist. Ben und Cillian nahmen mich bei sich auf und zogen mich groß. Ben sagt, meine Mutter sei die letzte Frau gewesen, die gestorben ist, aber das sagt jeder von seiner Mutter. Kann sein, dass Ben die Wahrheit sagt, zumindest glaubt er daran, aber wer weiß das schon?
    Ich jedenfalls bin der Jüngste in der ganzen Stadt. Sonst war ich immer mit Reg Oliver unterwegs (sieben Monate und acht Tage älter als ich), wir haben mit Steinen nach den Krähen auf den Feldern geworfen. Liam Smith (vier Monate und neunundzwanzig Tage älter als ich) war auch dabei und Seb Mundy, der nach mir der Jüngste ist, er ist drei Monate und einen Tag älter, aber nicht einmal er spricht jetzt noch mit mir, seit er ein Mann ist.
    Kein Junge macht das, wenn er erst einmal dreizehn ist.
    So ist das nun mal in Prentisstown. Jungen werden zu Männern und dann gehen sie in Männerversammlungen, in denen sie über Gott weiß was reden und zu denen Jungs keinen Zutritt haben, und wenn du der letzte Junge in der ganzen Stadt bist, dann musst du eben ganz alleine warten.
    Na ja, allein mit einem Hund, den du gar nicht haben wolltest.
    Aber egal, hier ist der Sumpf, und wir gehen hinein, bleiben auf den Pfaden, die an den schlimmsten Morastlöchern vorbeiführen, sich vorbeischlängeln an den großen, knolligen Bäumen mit ihren Nadeldächern, die Meter um Meter aus dem Sumpf in die Höhe wachsen. Die Luft ist stickig, dunkel und schwer, aber diese stickige, dunkle Schwere hat nichts Beängstigendes an sich. Hier gibt es jede Menge Leben. Leben, das sich keinen Deut um die Stadt schert, Vögel und grüne Schlangen und Frösche und Kivits und beide Arten von Eichhörnchen und (ungelogen) ein oder zwei Cassors, und natürlich gibt es auch rote Schlangen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. In die Düsternis hier unten dringen immer wieder einzelne Lichtstrahlen durch, sie fallen durch Öffnungen im Blätterdach, und wenn du mich fragst, was du aber auch lassen kannst, mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher