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Die Flucht

Titel: Die Flucht
Autoren: Patrick Ness
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staubigen Straße auf, als ihn das Pferd den Anstieg hinaufschleift.
    Die Pistole liegt da.
    Ich will sie holen.
    »Todd?«
    Jetzt bleibt keine Zeit mehr.
    Keine Sekunde bleibt mehr.
    Ich lasse die Pistole liegen und renne zurück zu Viola, die neben einem Busch liegt.
    »Ich glaube, ich muss sterben«, sagt sie.
    »Du wirst nicht sterben«, versichere ich ihr und schiebe die Arme unter ihre Schultern und ihre Knie.
    »Mir ist kalt.«
    »Du wirst, verdammt noch mal, nicht sterben!«, sage ich. »Nicht heute!«
    Und da stehe ich, halte sie in den Armen, an der Stelle, wo der Zickzackpfad hinunter nach Haven führt.
    Aber das wird nicht schnell genug gehen.
    Ich muss den geraden Weg nehmen. Mitten durchs Gestrüpp.
    »Komm schon!«, sage ich laut. Mein Lärm vergisst sich selbst, und alles, was es auf der ganzen Welt noch gibt, sind meine Beine, die laufen.
    Komm schon!
    Ich renne.
    Durch Gestrüpp.
    Über die Straße.
    Durch noch mehr Gestrüpp.
    Und wieder über die Straße, als sie eine Kehre macht. Bergab, bergab.
    Ich trete Erdklumpen los, springe über Sträucher.
    Stolpere über Wurzeln.
    Schneller!
    »Halt durch«, sage ich zu Viola. »Halt bitte durch, hörst du?«
    Jedes Mal, wenn wir irgendwo hart aufkommen, stöhnt Viola.
    Aber das bedeutet, sie atmet noch.
    Bergab.
    Und bergab.
    Schneller!
    Bitte.
    Ich rutsche auf Farnkräutern aus.
    Aber ich stürze nicht.
    Straße und Gestrüpp.
    Es ist so steil, meine Beine tun schon weh.
    Gestrüpp und Straße.
    Bergab.
    Bitte!
    »Todd?«
    »Halte durch!«
    Ich komme am Fuß des Hügels an und ich renne weiter. Sie ist so leicht.
    So leicht.
    Ich laufe weiter bis zu der Stelle, an der die Straße wieder auf den Fluss trifft, die Straße nach Haven.
    »Halte durch!«, sage ich noch einmal und renne weiter. Schneller!
    Bitte.
    Die Straße hat so viele Windungen und Kurven.
    Zwischen Bäumen hindurch und längs des Ufers.
    Vor mir sehe ich die Befestigungsanlage, die ich von oben durch das Fernglas erspäht habe, es sind große, hölzerne Böcke, die aussehen wie ein X. Sie sind hintereinander aufgereiht bis auf einen Durchgang für die Straße.
    »Hilfe!«, rufe ich, als wir uns ihnen nähern. »Helft uns. Wir brauchen Hilfe!«
    Ich renne.
    Schneller.
    »Ich glaube, ich kann nicht mehr«, sagt Viola mit erstickter Stimme.
    »Natürlich kannst du noch«, schreie ich sie an. »Wage es nicht aufzugeben!«
    Ich renne.
    Wir erreichen die Straßensperren.
    Aber da ist niemand.
    Kein Mensch ist da.
    Ich renne durch die freie Passage und bleibe gerade lange genug stehen, um mich umzusehen.
    Kein Mensch zu sehen.
    »Todd?«
    »Wir sind gleich da«, beruhige ich sie.
    »Ich werde ohnmächtig, Todd.«
    Ihr Kopf fällt zurück.
    »Nein, das wirst du nicht!«, schreie ich. »Du wachst auf, Viola Eade. Du machst deine verdammten Augen auf.«
    Und sie versucht es. Ich sehe, wie sie es versucht.
    Ihre Augen öffnen sich, einen Spalt nur, aber sie öffnen sich.
    Und ich renne weiter, so schnell ich kann.
    Und ich rufe: »Hilfe!«, während ich laufe.
    »Hilfe!«
    Bitte.
    »Hilfe!«
    Ihr Atem geht nur noch stoßweise.
    »Helft uns!«
    Bitte nicht.
    Und ich sehe keinen Menschen.
    Die Häuser, an denen ich vorbeikomme, sind verriegelt und verlassen. Aus der staubigen Landstraße ist inzwischen eine gepflasterte Straße geworden und immer noch ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen.
    »Hilfe!«
    Meine Füße trommeln über das Pflaster.
    Die Straße führt zu einer großen Kirche auf einer kleinen Anhöhe, der Kirchturm blickt auf einen Marktplatz herab. Und auch hier ist niemand.
    Nein.
    »Hilfe!«
    Ich renne auf den Platz, überquere ihn, schaue mich nach allen Seiten um, höre mich um.
    Nein, bitte nicht .
    Alles verlassen.
    In meinen Armen ringt Viola nach Luft.
    Und ganz Haven ist verlassen.
    Ich stehe jetzt mitten auf dem Platz.
    Ich drehe mich im Kreis.
    »Hilfe!«, weine ich.
    Aber niemand hört mich.
    Haven ist menschenleer.
    Hier gibt es nicht ein Fünkchen Hoffnung.
    Viola entgleitet mir fast, ich muss mich hinknien, um sie wieder richtig zu fassen. Mein Hemd ist von ihrer Wunde gerutscht und ich halte es mit einer Hand fest.
    Uns ist nichts geblieben. Nicht die Tasche, nicht das Fernglas, nicht das Buch meiner Mutter. Alles liegt noch oben auf dem Berg.
    Nur Viola und ich sind da, wir sind alles, was uns noch geblieben ist.
    Und sie blutet so stark.
    »Todd?«, sagte sie leise und undeutlich.
    »Bitte.« Meine Augen quellen über, meine Stimme überschlägt
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