Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Flucht

Titel: Die Flucht
Autoren: Patrick Ness
Vom Netzwerk:
Knirschen, ein Knirschen, das ich nie vergessen werde.
    Durch die Wucht des Stichs fällt Aaron vornüber.
    Viola lässt das Messer los.
    Weicht zurück.
    Ihr Gesicht ist kreidebleich.
    Ich höre sogar durch das Donnern des Wassers hindurch, wie schwer sie atmet.
    Ich stütze mich auf die Hände und stehe auf.
    Und dann sehen wir es.
    Aaron richtet sich mühsam auf.
    Er richtet sich auf, eine Hand umklammert das Messer, aber es steckt fest in seinem Hals. Sein eines Auge ist weit aufgerissen, die Zunge hängt ihm aus dem Mund.
    Er kommt auf die Knie.
    Dann auf die Füße.
    Viola schreit auf und macht einen Schritt zurück.
    Geht noch weiter zurück, bis sie ganz dicht neben mir steht.
    Wir hören, wie er versucht zu schlucken.
    Wie er versucht zu atmen.
    Er macht einen Schritt, aber er fällt gegen die Kanzel. Er schaut uns an.
    Seine Zunge schwillt und zuckt.
    Er will etwas sagen.
    Er will mir etwas sagen.
    Er versucht ein Wort hervorzubringen.
    Aber es geht nicht.
    Sein Lärm besteht aus bizarren Farben, aus Bildern und Dingen, die ich niemals wiedergeben kann.
    Er schaut mir in die Augen.
    Und dann ist sein Lärm still.
    Ganz still.
    Endlich.
    Die Schwerkraft gewinnt die Oberhand und er fällt auf die Seite.
    Weg von der Kanzel.
    Über die Klippe.
    Er verschwindet hinter der Wand aus Wasser.
    Und das Messer nimmt er mit sich.

42
    Der schnellste Weg nach Haven
    Viola lässt sich schwer atmend auf die Erde fallen. Sie starrt wie blind zu der Stelle, an der gerade noch Aaron gewesen ist. Sonnenstrahlen lassen die Wassergischt in allen Farben funkeln und tauchen Violas Gesicht in ein schimmernd milchiges Licht, aber das ist auch die einzige Regung, die ich darin erkenne.
    »Viola?«, sage ich und kauere mich neben sie.
    »Er ist fort«, sagt sie leise.
    »Ja«, sage ich. »Das ist er.«
    Sie holt ganz tief Luft.
    Mein Lärm knirscht wie ein zerschellendes Raumschiff, er ist so voller Rot und Weiß und so voller anderer Dinge, dass ich das Gefühl habe, mir reißt der Kopf entzwei.
    Ich hätte es getan.
    Für sie hätte ich es getan.
    Stattdessen ...
    »Ich hätte es getan«, sage ich. »Ich war dazu bereit.« Sie sieht mich an, ihre Augen sind riesengroß. »Todd?«
    »Ich hätte ihn getötet.« Meine Stimme klingt unnatürlich hoch. »Ich war bereit dazu.«
    Und dann fängt ihr Kinn an zu zittern, nicht so, als würde sie gleich anfangen zu weinen, es zittert einfach, und dannfangen auch ihre Schultern an zu zittern, und ihre Augen werden immer größer, und sie zittert noch stärker, und mein Lärm ist ganz verschlossen, nichts dringt heraus, alles ist noch drin, aber etwas anderes kommt plötzlich dazu, und es hat mit ihr zu tun, und ich nehme sie in die Arme und drücke sie an mich, und wir wiegen uns vor und zurück, vor und zurück, damit sie so lange zittern kann, wie sie möchte.
    Aus ihrem Mund kommt kein einziges Wort, nur ein kleiner Schluchzer, der aus ihrem tiefsten Inneren zu dringen scheint, und ich muss daran denken, wie es war, als ich den Spackle umgebracht habe, wie ich danach immer wieder den Stoß in meinem Arm fühlte und sein Blut vor mir sah, wie ich ihn immer wieder sterben sah.
    Auch jetzt noch.
    (Ich hätte es getan.)
    (Ich war bereit dazu.)
    (Aber das Messer war nicht da.)
    »Jemanden zu töten ist ganz anders als in den Geschichten, die man sich erzählt«, murmle ich in ihre Haare hinein. »Ganz anders.«
    (Ich hätte es getan.)
    Sie zittert noch immer, und wir sitzen noch immer neben einem tosenden Wasserfall. Die Sonne steht höher am Himmel, in der Kirche ist es jetzt düsterer, und wir sind nass und blutig und blutig und nass.
    Es ist kalt und wir zittern.
    »Komm.« Ich versuche aufzustehen. »Wir müssen das nasse Zeug ausziehen.«
    Ich ziehe sie hoch.
    Ich hole die Tasche, die immer noch auf dem Boden zwischenzwei Sitzbänken liegt, kehre zu Viola zurück und strecke die Hand nach ihr aus.
    »Die Sonne steht im Zenit«, sage ich. »Es ist bestimmt warm draußen.«
    Eine Minute lang starrt sie auf meine Hand und rührt sich nicht.
    Aber dann ergreift sie sie doch.
    Wir gehen um die Kanzel herum, und gegen unseren Willen müssen wir beide zu der Stelle hinschauen, an der Aaron abgestürzt ist. Sein Blut ist schon fortgewaschen von der Gischt.
    (Ich hätte es getan.)
    (Aber das Messer.)
    Ein Zittern durchläuft meine Hand, und ich weiß nicht, ob es von Viola oder von mir ausgeht.
    Wir gehen zu den Stufen und sind schon zur Hälfte oben, als sie endlich etwas sagt.
    »Mir ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher