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Die Flucht

Titel: Die Flucht
Autoren: Patrick Ness
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schlecht.«
    »Ich weiß«, sage ich.
    Wir bleiben stehen und sie beugt sich über den Wasserfall und muss sich übergeben.
    Muss sich heftig übergeben.
    Ich schätze, das passiert einfach, wenn man jemanden getötet hat.
    Wieder beugt sie sich vor, ihre Haare sind nass und strähnig. Sie spuckt.
    Als sie redet, schaut sie mich nicht an.
    »Ich durfte nicht zulassen, dass du es tust«, sagt sie. »Dann hätte er gewonnen.«
    »Ich hätte es getan«, sage ich.
    »Ich weiß«, murmelt sie in ihre Haare, in das Wasser. »Darum habe ich es getan.«
    Ich muss ganz tief ausatmen. »Du hättest es mich tun lassen sollen.«
    »Nein. Das konnte ich nicht zulassen. Auf keinen Fall.« Sie wischt sich über den Mund und hustet. »Aber das allein ist es gar nicht.«
    »Was dann?«, frage ich.
    Sie sieht mich an. Ihre Augen sind weit aufgerissen und blutunterlaufen vom Würgen.
    Und sie wirken viel älter als noch vor Kurzem.
    »Ich wollte es tun, Todd«, sagt sie und verzieht den Mund. »Ich wollte es. Ich wollte ihn töten.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »Oh mein Gott!«, keucht sie. »Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!«
    »Hör auf.« Ich ziehe ihre Hände weg. »Hör auf. Er war böse. Er war verrückt und böse.«
    »Ich weiß«, schreit sie. »Aber ich sehe ihn vor mir. Ich sehe, wie das Messer in ihn eindringt ...«
    »Also gut, du wolltest es tun«, unterbreche ich sie, bevor sie sich noch mehr aufregt. »Und wenn schon? Ich wollte es auch. Er hat dich dazu gebracht, es zu wollen. Er hat dafür gesorgt, dass es nicht anders ausgehen konnte, es hieß: Entweder er oder wir. Denn er war durch und durch böse. Nicht was ich getan habe oder was du getan hast, war böse, sondern was er getan hat.«
    »Er hat eingelöst, was er angekündigt hat«, sagt sie schon etwas ruhiger. »Er hat mich dazu gebracht zu fallen.«
    Sie stöhnt auf und presst die Hand vor den Mund. In ihren Augen stehen Tränen.
    »Nein«, sage ich. »Nein, denn weißt du, ich sehe die Sache so ...«
    Mein Blick wandert über den Wasserfall und den Tunnel, und ich weiß selbst nicht genau, was ich denke, aber da steht sie, ich sehe sie hier vor mir, und wie soll ich wissen, was sie denkt, aber ich weiß genau, was sie denkt, und sie ist da, steht am Rand eines Abgrunds, und sie schaut mich an, fleht mich an, sie zu retten.
    Sie zu retten, wie sie mich gerettet hat.
    »Also ich sehe die Sache so ... « Meine Worte werden entschlossener, die Gedanken kommen, sie sprudeln in meinen Lärm hinein, raunen die Wahrheit. »Vielleicht ist es so, dass jeder irgendwann zu Fall kommt«, sage ich. »Jeder von uns.
    Und das ist auch gar nicht die entscheidende Frage.«
    Ich zupfe sie sanft am Arm, damit sie mir auch gut zuhört. »Die Frage ist doch, ob wir danach wieder aufstehen.« Neben uns rauscht das Wasser, und wir zittern nicht nur vor Kälte, und sie starrt mich an, und ich warte und hoffe. Und dann tritt sie einen Schritt vom Abgrund weg. »Todd«, sagt sie und es ist keine Frage.
    Es ist nur mein Name.
    Der, der ich bin.
    »Komm«, sage ich. »Haven wartet auf uns.«
    Ich nehme sie bei der Hand, und wir steigen die Stufen hinauf und kehren zurück zu der Stelle, die zur Böschung führt. Der Sprung ist diesmal schwieriger, weil wir so nass und geschwächt sind, aber ich schaffe es mit einem Anlauf und ziehe die stolpernde Viola hinter mir her.
    Und dann sind wir im hellen Sonnenlicht.
    Wir atmen es gierig ein, ziehen die nassen Sachen aus, ehewir uns daran machen, die Böschung hinaufzusteigen und den Pfad zurückzugehen bis zur Straße.
    Wir schauen ins Tal, folgen dem Zickzack des Hügelpfads. Es ist noch da. Haven ist noch da.
    »Letzte Etappe«, sage ich.
    Viola reibt sich die Arme trocken. Sie blinzelt, sieht mich prüfend an. »Dein Gesicht hat schlimm was abgekriegt, weißt du das?«
    Ich taste es ab. Mein Auge schwillt zu und da ist ein Riss im Mundwinkel, wo jetzt ein, zwei Zähne fehlen.
    »Danke«, sage ich. »Es hat nicht wehgetan, bis du mich darauf hingewiesen hast.«
    »Tut mir leid.« Sie lächelt schwach, fasst sich an den Hinterkopf und zuckt zusammen.
    »Und wie steht’s mir dir?«, frage ich.
    »Tut weh«, antwortet sie. »Aber ich bin am Leben.« »Du bist unverwüstlich, weißt du das?«
    Wieder lächelt sie.
    Plötzlich fährt ein merkwürdiges Sirren durch die Luft. Viola keucht und sagt leise: »Oh ...«
    Für eine Sekunde begegnen sich unsere Blicke, wir sind verwundert und wissen nicht, warum.
    Dann folge ich ihrem
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