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Die Flucht

Titel: Die Flucht
Autoren: Patrick Ness
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meisten.
    Beispielsweise habe ich noch nie eine leibhaftige Frau oder einen leibhaftigen Spackle gesehen. In Videofilmen natürlich schon, die stammen aus den Zeiten, in denen die Spackle noch nicht geächtet waren, aber im Lärm der Männer sehe ich sie immerzu, denn was haben Männer anderes im Kopf außer Sex und ihre Feinde? Im Lärm sind die Spackle viel größer und gemeiner als in den Filmen, stimmt’s? Und die Frauen haben blondere Haare, größere Brüste, sind spärlicher bekleidet und gehen mit ihren Gefühlen viel freier um als in den Videos. Man darf also nie vergessen, dass der Lärm nicht die Wahrheit zeigt. Im Lärm hört man jene Wahrheit, die die Männer sich wünschen, und zwischen Wahrheit und Wunsch ist ein großer Unterschied, so groß, dass er dich verdammt noch mal umbringen kann, wart’s nur ab.
    »Nach Hause, Todd?« Manchee bellt ein bisschen lauter zu meinen Füßen, denn anders geht es nicht bei diesem Lärm.
    »Ja, wir gehen«, sage ich. Wir wohnen auf der anderen Seite, im Nordosten, und um dorthin zu kommen, müssen wir quer durch die ganze Stadt gehen, deshalb kann ich dich, wenn du willst, auf eine kleine Besichtigungstour mitnehmen, die so lange dauert, wie ich für den Weg brauche, wenn ich ganz schnell gehe.
    Als Erstes kommen wir zum Geschäft von Mr Phelps. Der Laden steht kurz vor dem Aus, so wie der Rest der Stadt auch, und Mr Phelps verbringt seine Zeit damit, verzweifelt zu sein. Selbst wenn man Sachen bei ihm kauft und er die Freundlichkeit in Person ist, sickert die Verzweiflung aus ihm heraus wie Eiter. Vorbei , sagt sein Lärm, vorbei, alles ist vorbei und Lumpen und Lumpen und nochmals Lumpen und meine Julie, meine liebe, liebe Julie . Julie war seine Frau, und in Mr Phelps Lärm trägt sie überhaupt keine Kleider.
    »He, Todd!«, ruft er uns zu, als Manchee und ich vorbeigehen.
    »Hallo, Mr Phelps.«
    »Wunderschöner Tag heute, nicht wahr?«
    »Das kann man laut sagen, Mr Phelps.«
    »Wunder!«, bellt Manchee und Mr Phelps lacht, aber sein Lärm sagt nur vorbei und Julie und Lumpen und zeigt mir Bilder von dem, was er an seiner Frau vermisst und weshalb sie so einzigartig oder was auch immer war.
    In meinem Lärm denke ich an nichts Besonderes, wenn ich an Mr Phelps denke, nur das Übliche, und dass man ohnehin nichts gegen seinen Schmerz tun kann. Obwohl ich zugeben muss, dass ich mich dabei ertappe, dass ich das alles ein bisschen lauter denke als sonst, um damit die Gedanken an das Loch, das ich im Sumpfland gefunden habe, zu übertönen, sie durch noch lauteren Lärm unhörbar zu machen.
    Ich weiß nicht, warum ich das eigentlich tue. Keine Ahnung, weshalb ich diese Gedanken verbergen will.
    Aber ich verberge sie.
    Manchee und ich laufen ziemlich schnell weiter, denn daneben sind die Tankstelle und Mr Hammar. Die Tankstelle ist nicht mehr in Betrieb, denn der Atomgenerator, der uns mit Treibstoff versorgt, hat im letzten Jahr den Geist aufgegeben, und jetzt steht er da, neben der Tankstelle, wie ein klobiger, hässlicher wunder Zeh, und keiner will in seiner Nähe wohnen, außer Mr Hammar, und Mr Hammar ist viel schlimmer als Mr Phelps, denn er zielt mit seinem Lärm genau auf dich.
    Und es ist ein hässlicher Lärm, ein böser Lärm, du siehst inihm Bilder von dir selbst, die du lieber nicht sehen würdest, gewalttätige Bilder, blutrünstige Bilder. Alles, was du dagegen tun kannst, ist, deinen eigenen Lärm so laut zu machen wie möglich und Mr Phelps’ Lärm auch noch mit hineinzunehmen und ihn direkt zu Mr Hammar zurückzuschicken. Äpfel und Ende und eins nach dem anderen und Ben und Julie und Wunder, Todd? und der Generator stottert und Lumpen und halt die Klappe, halt endlich die Klappe und schau mich an, Junge .
    Ich blicke ihn an, obwohl ich das gar nicht will. Aber manchmal ist man so überrumpelt, deshalb drehe ich den Kopf, und da steht Mr Hammar an seinem Fenster, schaut mich an und denkt einen Monat , und in seinem Lärm ist ein Bild, in diesem Bild stehe ich ganz alleine da, und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, ist es wahr oder lügt er absichtlich, und so muss ich unwillkürlich an einen Hammer denken, der wieder und wieder auf Mr Hammars Kopf niedersaust, und er lächelt mich einfach nur aus seinem Fenster an.
    Die Straße führt in einem Bogen um die Tankstelle herum und dann am Krankenhaus vorbei. Ich höre Dr. Baldwin und das Jammern und Stöhnen, mit dem sich die Männer vor den Ärzten wichtig machen, wenn ihnen eigentlich
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