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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Autoren: Mike Powelz
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rufen einen Krankenwagen.“
    „Das klingt sehr gut“, erwiderte Minnie. „Ich glaube fast, dass ich aufatmen kann – oder?“
    „Das können Sie“, versprach der Psychologe. „Sie können uns vertrauen und absolut sorglos leben. Wir unterstützen Sie dabei, nicht mehr an Morgen und Übermorgen zu denken. Was zählt, ist der Augenblick. Jeder Moment soll so schön sein wie möglich. Sobald Sie schmerzfrei sind, können Sie wieder Ausflüge machen. Und essen, wonach Ihr Herz verlangt. Außerdem werden Sie bei uns viele sympathische Menschen kennenlernen. In Haus Holle leben immer zwölf Gäste.“
    „Warum habe ich noch nie etwas von dieser Einrichtung gehört?“, fragte Minnie fassungslos.
    „Weil die Menschen den Tod fürchten. Sie möchten ihn ausklammern. Außerdem verdrängen sie, dass er zum Leben gehört wie die Geburt. Unter Schmerzen zu sterben – das gab es nur früher, Minnie.“
    „Ich habe große Angst vor Schmerzen“, gestand die alte Dame.
    „Mit Recht, liebe Minnie. Aber mittlerweile können wir Schmerzen zu 99,9 Prozent lindern. Unsere Medikamente werden derart individuell an Sie angepasst, dass jede Qual auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Sie werden sie komplett vergessen und trotzdem bei klarem Verstand sein. Meistens sterben unsere Gäste, ohne dass sie es bemerken.“
    „Weil Sie Sterbehilfe leisten?“
    „Das würden wir niemals tun“, sagte Dr. Albers fest. „Für uns ist das Sterben ein natürlicher Prozess. Wir lindern Schmerzen – aber wir töten keine Menschen.“
    „Das heißt, Sie bringen keinen um die Ecke?“
    Dr. Albers’ Augen fixierten die alte Dame eindringlich. „Genau. Keiner der 100 bis 120 Menschen, die jährlich bei uns sterben, wurde von uns beim Suizid unterstützt oder umgebracht.“
    „Will sich keiner töten vor Angst?“
    „Manche Gäste kommen mit dem Vorsatz“, sagte der Psychologe ehrlich. „Aber am Ende lagen immer noch alle Tabletten im Nachtschrank. Unsere Gäste haben verstanden, dass sie nicht zu diesem Ausweg greifen müssen. Weil es ihnen gut geht.“
    Minnie atmete tief ein. „Dann werde ich das Zimmer nehmen. Vorausgesetzt, dass es hell und freundlich ist.“
    „Das verspreche ich Ihnen.“
    „Und ich möchte meinen Fernsehsessel mitbringen – und meine Vorhänge!“
    „Wir lassen beides abholen.“
    „Mögen Sie zum Du übergehen?“
    „Natürlich“, sagte Dr. Albers. „Ich heiße Andreas.“
    Er reichte Minnie seine Hand. Die alte Dame ergriff sie. „Warum erzählst Du nicht mehr Menschen von Eurer Einrichtung? Warum wird nicht mehr darüber geredet?“ Gespannt wartete Minnie auf Andreas’ Antwort.
    Dr. Albers lächelte. „Eines musst Du verstehen, Minnie. Die Menschen da draußen, all die vermeintlich Gesunden, möchten den Gedanken an den Tod verdrängen. Bis sie sich mit ihm beschäftigen müssen.“

Zwölf Gäste
     
     
    „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“
    Minnie musterte ihr Gegenüber. Der Besucher, Dr. Andreas  Albers, war genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Gerade hatte sich Minnie entschlossen, Haus Holle im Alleingang zu besichtigen. Der Blick des circa 60-jährigen Psychologen strahlte große Herzlichkeit aus. Er war verbindlich, jedoch nicht distanzlos. Außerdem trug er keinen weißen Kittel wie die Ärzte in der Krebsklinik, sondern einen hellblauen Kaschmirpulli und eine Blue Jeans.
    „Was für ein Zufall, dass Du heute Geburtstag hast“, sagte Dr. Albers. „Weißt Du, dass wir seit Wochen ein Klavierkonzert vorbereiten, das ab 20 Uhr im Grünen Saal stattfindet? Außerdem wird Nana Mouskouri kommen und ihre schönsten Lieder singen.“
    Diese Nachricht hellte Minnies Stimmung schlagartig auf. Sie liebte Klaviermusik. Weil die alte Dame glaubte, dass sich hinter jedem Zufall ein tieferer Sinn verbarg, der sich nicht auf den ersten Blick erschloss, hinterfragte sie das Zusammentreffen des Klavierkonzerts mit ihrem 84. Geburtstag nicht. Zufälle hatte sie zeitlebens als eine Fügung interpretiert. 
    „Normalerweise würde Dich jetzt erst einmal unser Schmerztherapeut Dr. Coppelius aufsuchen. Doch ich habe bereits einen Blick auf Deinen so genannten Überleitungsbogen geworfen. Demzufolge bist Du in der Klinik bereits optimal eingestellt worden. Deine Schmerzmedikamente wirken bis heute Abend.“
    Der Psychologe hakte sich bei Minnie ein, und fuhr fort: „Jetzt ist gerade Kaffeezeit. Kostja, unser Koch, hat eine hervorragende Himbeersahnetorte gebacken. Willst Du mitkommen, und
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