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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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der Statue nieder und versuchte zu beten.
    Kassandra war eine Fremde in diesem Land, und auch diese Göttin war ihr fremd. Vermutlich bestand kein großer Unterschied zwischen der Göttin der Krokodile und der Göttin der Schlangen; aber sie brachte kein Gebet über die Lippen und konnte auch nicht in die Zukunft blicken, um herauszufinden, ob es Agathon gutgehen werde.
    Sie hätte im Tempel des Sonnengottes opfern sollen; hier in Ägypten war der Sonnengott der höchste aller Götter, und man nannte IHN Re. Aber Kassandra hatte immer noch kein Vertrauen in den Gott, der nicht in der Lage oder nicht willens gewesen war, ihre Stadt zu retten, und wollte sich nicht an IHN wenden.
    Wenn ER uns nicht retten konnte, ist ER kein Gott. Und was für ein Gott ist ER, wenn ER uns hätte retten können und es nicht getan hat?
    Am nächsten Tag wurde das Schiff beladen. Agamemnon überreichte dem Pharao die letzten Gastgeschenke, und sie verließen Ägypten.
    Kassandra fürchtete, die Seekrankheit würde wieder einsetzen. Aber diesmal wurde ihr in der ersten Nacht nach dem Auslaufen nur etwas schwindlig. Am nächsten Morgen ging es ihr gut. Sie aß mit großem Appetit das harte Schiffsbrot und die Früchte, saß an Deck und stillte Agathon. Die Krankheit war also doch eine Nebenwirkung der Kopfverletzung und danach der Schwangerschaft gewesen.
    Sie verstand nichts vom Segeln und von Schiffen. Agamemnon schien mit dem starken Wind zufrieden zu sein, der sie Tag um Tag über das blaue Wasser trieb. Agathon erwies sich als ebenso guter Seemann wie sein Vater. Er trank gierig und schien mit jedem Tag zu wachsen. Die kleinen Hände formten sich ebenso wie Nase und Kinn. Wenn Kassandra sich sein Kinn betrachtete, hatte sie das Gefühl, Agamemnon könne doch sein Vater sein. Agamemnon nahm Agathon oft auf die Arme, wiegte ihn und versuchte, ihn zum Lachen zu bringen. Das hätte sie am allerwenigsten erwartet. Auch Hektor und sogar Paris hatten gern mit ihren Kindern gespielt; so schwer es ihr auch fiel, Kassandra mußte sich eingestehen, daß die Achaier sich nicht sehr von anderen Männern unterschieden.
    Eines Morgens, als es gerade hell wurde, ging Kassandra an Deck, um die Windeln des Kindes in einem Eimer Wasser auszuwaschen und zum Trocknen auszubreiten. Auf dem Schiff war alles still; der Steuermann stand am Heck, denn der Wind war stark genug, und man brauchte die Ruderer nur, wenn das Schiff in Küstennähe kam.
    Kassandra blickte von Horizont zu Horizont. Das Meer war ruhig, und sie glitten zwischen zwei Küsten dahin. Auf der einen Seite ragte ein hoher Berg auf, dessen Schatten beinahe das Schiff erreichte. Auf der anderen Seite befand sich eine niedere, flache, lange und baumlose Landspitze. Plötzlich loderte auf dem Berg ein Feuer auf; die Flammen schienen sich wie Blüten zu entfalten. 
    Der Steuermann stieß einen Jubelruf aus und rief seine Kameraden. Agamemnon erschien an Deck und sagte zu der Mannschaft: »Wir sind da, meine tapferen Männer. Das ist das Leuchtfeuer auf unserem Festland. Nach all den vielen Jahren kehren wir endlich in die Heimat zurück. Ich werde Zeus, dem Donnerer, einen Stier opfern.«
    Die ersten Sonnenstrahlen trafen seine Augen -  rot wie Blut  - dachte Kassandra. Ihre Augen schmerzten, und sie dachte daran, daß Agamemnon wohl kaum so überglücklich sein konnte. Was würde ihn in der Heimat erwarten?
    Mit Agathon auf dem Arm trat sie neben ihn an die Reling.
    »Was ist das?«
    »Bei meiner Abfahrt gab ich Befehl, daß auf dem Berg ein großer Holzstoß errichtet und ein Wächter ständig nach meinem Schiff Ausschau halten soll. Man hat uns gesichtet. Der Palast wird von unserer Ankunft benachrichtigt werden, und uns erwarten eine feierliche Begrüßung und ein Festmahl. Ich freue mich, wieder zu Hause zu sein. Ich werde dir mein Land und den Palast zeigen, wo du Königin sein sollst.« 
    Er nahm das Kind auf den Arm, beugte sich über das kleine Gesicht und sagte: »Das ist dein Land, mein Sohn, mit dem Thron deines Vaters. Du schweigst, Kassandra?«
    »Es ist nicht mein Land«, erwiderte sie, »und Klytaimnestra wird mich nicht mit offenen Armen aufnehmen, auch wenn sie sich freuen mag, dich wiederzusehen. Ich fürchte um mein Kind. Klytaimnestra…«
    »Du hast nichts zu befürchten«, erklärte er selbstsicher. »Bei den Achaiern sind die Frauen gehorsam. Klytaimnestra wird nicht wagen, auch nur ein Wort gegen dich zu sagen. Während meiner Abwesenheit konnte sie frei herrschen.
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