Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
nicht stark genug war,um sich dem Haus der Millwards auch nur zu nähern. Er sagte sich, nach ein paar Tagen werde er sich gewiss kräftiger fühlen. Doch dann vergingen die Tage, sie vergingen, und er sah sich immer noch nicht in der Lage, das zu sagen, was zu sagen er gekommen war. Jeden Morgen fragte er sich: »Soll ich heute gehen?« Und jeden Morgen antwortete er: »Nein.« Und als aus den Tagen Wochen wurden, gestand er sich allmählich halbherzig ein, dass er nie dazu fähig sein würde, dass die Worte, die er sagen müsste, sich nicht sagen ließen.
    Als er eines Nachmittags langsamen Schritts zu dem kleinen See schlenderte, sah er dort jemanden stehen und Enten füttern.
    Es war Susan Millward, Rebeccas jüngere Schwester. Joseph machte rasch kehrt, um sich zu entfernen, aber sie lief ihm hinterher und rief: »Joseph Blackstone! Joseph Blackstone! Grüßen Sie denn unsereins nicht mehr?«
    Also musste er stehen bleiben, konnte sich nicht wie ein Dieb davonschleichen, musste warten, bis sie ihn eingeholt hatte. Er stand da und schaute sie an. Mehr denn je ähnelte sie Rebecca. Dieselben braunen Locken, dasselbe spöttische Lächeln. Dieselben schiefstehenden Zähne. Es gelang ihm, sich vor ihr zu verbeugen, und sie lachte über diese linkische Förmlichkeit, und Joseph hörte Rebecca lachen. Er wusste, dass er jetzt hier, auf diesem Weg zum See, vor Susan Millward auf die Knie fallen sollte, um stotternd hervorzubringen, dass er nur deshalb am Leben geblieben sei, weil er Wiedergutmachung leisten wolle. Doch er brachte es nicht fertig.
    »Was hättest du gern?«, stieß er hervor. »Sag mir, was ich dir schenken kann.«
    »Wie bitte?«, sagte Susan.
    »Ich habe jetzt ein bisschen Geld. Ich habe in Neuseeland Gold gefunden. Vielleicht hast du davon gehört? Sag mir, was für ein Geschenk dir gefallen würde.«
    »Was?«, fragte sie schüchtern. »Was für ein Hochzeitsgeschenk?«
    »Ja«, erwiderte er, doch nun war er verwirrt. Von welcher »Hochzeit« redete sie? War es möglich … war es wirklich denkbar, dass Susan Millward ihr Auge auf den Mann geworfen hatte, den ihre Schwester geliebt und verloren hatte?
    »Meine Mama sagt, die Leute sind schon viel zu nett gewesen«, erklärte Susan.
    Er starrte sie an. Vor lauter Verwirrung konnte er nicht mehr deutlich sehen, als hätte der Tag sich plötzlich verdunkelt. Und sie erschien ihm so jung, fast noch ein Kind. Es war unmöglich, dass sie ihn, der doch inzwischen so viel älter aussah, als er tatsächlich war, für einen geeigneten Mann hielt …
    Er wartete, dass sie etwas sagte, aber sie lächelte nur, trat verlegen auf der Stelle und drehte den Kopf weg. Er sah die Sonne in ihrem schimmernden Haar und auf ihren Händen, in denen sie ein zerknautschtes Taschentuch hielt. Und dann sah er den Ring. Einen kleinen Brillanten, in Gold gefasst, und er begriff.
    »Dann erzähl mir doch mal«, sagte er, nachdem er sich ein wenig gefasst hatte, »wo ich so lange fort war … erzähl mir, wen wirst du denn heiraten?«
    Susan Millward errötete, schob sich die Haare aus der Stirn und lächelte ihn erneut an. »Meine Mama stichelt immer, ich würde über Stand heiraten«, sagte sie, »weil ich den Tierarzt heirate, Mr Merrick Dillane.«
    Als Joseph später in seinem engen Zimmer lag und den Tauben lauschte, überlegte er, ob er aus Parton fortgehen, Norfolk verlassen und in eine andere Grafschaft ziehen sollte, wo er keinen kannte, wo er ein anonymes Leben führen könnte. Doch er merkte, dass er dazu nicht in der Lage war. Er war um die halbe Welt gereist und wieder hier gelandet. Er hatte nicht die Kraft, fortzugehen.
    Er kaufte eine niedrige strohgedeckte Kate, die einem Spielzeugmacher gehört hatte. In dem kleinen Nebengebäude, das dem alten Mann als Werkstatt gedient hatte, hingen noch die Gerätschaften an der Wand. Über den Ziegelboden trieb eine blasse, duftende Wolke aus Sägespänen gegen die Wände. Der Garten war schon vor langer Zeit Giersch und Nesseln überlassen worden.
    Joseph ließ alles, wie er es vorgefunden hatte.
    Er kaufte neues Bettzeug, schlief aber im Bett des Spielzeugmachers und las die Bücher aus dem Regal über dem Bett – Gullivers Reisen , Eine kurze Geschichte Indiens , Berühmte Puppenhäuser der Welt.
    Gulliver ängstigte ihn zu sehr, und er legte das Buch weg, ohne es auszulesen. Mit der Geschichte Indiens erging es ihm ähnlich, sie schien zu viel verstörenden Zorn zu enthalten, und in seinen Träumen wurde er von einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher