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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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er zum Reihersee zurückkehrte, dieses Wissen mit sichnehmen und es für immer in seinem Herzen bewahren konnte. Doch sie schwieg.
    Jetzt galten die Schläge der Spitzhacke den Goldadern. Das Geräusch von Eisen auf Edelmetall schien durch den ganzen Berg zu laufen. Doch das Felsgestein war poröser und brüchiger, als Pao Yi und Harriet erwartet hatten. Es gab viel leichter nach, und sie konnten tatsächlich Splitter und Bröckchen mit den bloßen Händen herauslösen, und es regnete sogar von ganz allein in kleinen Bröseln überallhin, auch in ihr Haar, und ihre Gesichter waren bald von schwarzem und glänzendem Staub bedeckt.
    Ihre Hände waren aufgerissen, und ihre Finger bluteten, und im flackernden Kerzenlicht hob Harriet ein helles Bröckchen auf und beobachtete, wie die eine Farbe die andere befleckte – rotes Blut auf einer Goldader –, und sie sah das überirdische Wunder und auch den menschlichen Schmerz.
    Sie blickte zu ihrem Liebsten hinüber, der das Gesicht abgewandt hatte, blickte auf seinen Rücken, seine starken Beine, seine Arme, die immer noch entschieden die Spitzhacke schwangen, und auf den Staub und die Steine, die auf ihn herabfielen. Sie wollte ihm zurufen, er solle aufhören, wollte ihn bitten, er möge die Höhle wieder verschließen und mit ihr in die Hütte zurückkehren, wollte ihm die Hand auf den Mund legen, ihn umarmen, so tun, als wäre der Schnee niemals getaut, als könnten sie weiter so leben wie bisher, am Rand des Gebirges, für immer vereint.
    Doch sie wusste, dass dies müßige Gedanken waren.
    Sie wusste, sie sollte damit beginnen, die heruntergefallenen Gesteinsbrocken durchzusortieren, ehe die Höhle so voll war, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Also sammelte sie die goldgeäderten Stücke auf und legte den Rest beiseite. An diesem Tag trug sie ihre alten Kleider, den Rock und den Unterrock, ihr Hemd und den Umhang. Sie nahm den Umhang ab und benutzte ihn als Tragetuch. Sie kroch zwischen Höhle undHütte hin und her und schleppte das volle Tuch hinaus, trug das Gold aus der flackernden Dunkelheit der Höhle hinaus ins helle Licht dieses neuen Frühlingstags.
    Sie breitete die Stücke aus und betrachtete sie. Sie nahm einen schartigen Brocken, wischte den Staub ab, unter dem sich der Goldklumpen verbarg. Sie versuchte zu erraten, was Pao Yi mit diesem einen Klumpen kaufen würde. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie wusste fast nichts über sein Leben. Doch jetzt konnte sie sehen, wie sein Sohn Paak Shui aus großer Ferne zu ihm gelaufen kam, und hinter dem Jungen tauchte seine Frau Paak Mei auf. Paak Mei konnte nicht richtig laufen, sie schlurfte, so schnell sie vermochte, zu ihrem Ehemann und streckte ihm ihre Arme entgegen. Und nun hörte Harriet ein melodisches Geräusch. Es klang wie blubberndes Wasser, und sie wusste, es war das Lachen von Paak Mei, das von den Wänden des Gebirgskessels widerhallte.

H ÄUSER AUS HOLZ
I
    Eine Liste mit den Namen der Goldgräber, die in der Flut von Kokatahi ums Leben gekommen waren, hatte man im Verwalterbüro von Hokitika ausgehängt. Aufgelistet waren, angeblich in »vollständiger und korrekter Form, alle Leichen, die in Kokatahi und Kaniere gefunden wurden«.
    Harriet starrte die Liste an.
    Da sie wusste, wo sein Claim lag, war sie davon ausgegangen, dass auch sein Name dort stünde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Flut ihn nicht fortgerissen hatte, da sein Claim direkt ans Ufer grenzte. In den letzten Tagen hatte sie sich häufig gefragt, wie lange er wohl durchgehalten hatte und ob die Hoffnung auf ihr Gold ihn zum Widerstand gegen den Sog der Strömung angespornt hatte. Vielleicht hatte er wirklich hart gekämpft – so wie er sich stets mit verzweifelter Wut gegen das Schicksal gestemmt hatte –, nur um dann doch noch gegen einen Stein im Fluss geschleudert zu werden.
    Aber sein Name stand nicht auf der Liste.
    Harriet verließ das Verwalterbüro und lief zum Strand hinunter. Sie setzte sich mitten zwischen das Treibholz und blickte hinaus aufs Meer, das an diesem Tag sehr schön blau war. Doch sie sah nur Eines, und das war das Einzige, was sie von nun an von diesem Ozean behalten würde: Sie sah das Schiff, das ihr Pao Yi genommen hatte.
    Sie versuchte, nicht daran zu denken.
    Da war das Joseph-Rätsel, das sie zu lösen hatte. Wenn Joseph nicht tot war, musste sie ihn finden. Sie musste ihm einen Anteil von ihrem Gold geben und ihm erklären, dass sie nicht länger mit ihm als seine Frau
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