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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume
Autoren: Rose Tremain
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zusammenleben konnte.
    Das Leben in Hokitika war noch immer sehr rege. Noch immer reisten Männer hier an und ab. Das Hotel baute zusätzliche Zimmer aus. Die Bank von Neuseeland besaß jetzt ein viel größeres Schild, und andere kleinere Privatbanken hatten sich in windschiefen Baracken eingerichtet und boten »Günstige Angebote selbst für geringste Goldfunde« an.
    Harriet hatte ihr Gold, in einen Schal gewickelt, im Kleiderschrank ihres Hotelzimmers versteckt. Sie spazierte in die Frühlingssonne hinaus, ihre Hand ruhte leicht auf ihrem Leib. Sie durchstreifte die Kais und die Gassen und blickte prüfend in alle Gesichter, die ihr begegneten. Man hatte ihr gesagt, dass die Überlebenden der Flut vorerst bei Familien in Hokitika untergekommen seien, weshalb sie herumzufragen begann, ob irgendjemand sich an Joseph Blackstone erinnern könne. Die Witwe Ernestine Boyd gehörte nicht zu denen, die sie befragte.
    Die Menschen schüttelten den Kopf. »Nein«, sagten sie. »An den Namen könnten wir uns erinnern. Black Stone. Schwarzer Stein, das vergisst man doch nicht. Vielleicht hat ihn die Flut geholt?«
    »Sein Name steht nicht auf der Liste im Büro.«
    »Ach«, sagten sie, »aber auf der Liste fehlen auch die Namen von Menschen, deren Leiche nicht gefunden wurde. Von Menschen, die verschwunden sind.«
    Menschen, die verschwunden sind.
    Als Harriet diese Worte hörte, wurde sie plötzlich überwältigt von jener Traurigkeit, die sie die ganze Zeit zu unterdrücken versucht hatte. Sie setzte sich auf eine niedrige Lehmmauer, und merkte, wie vertraut ihr das Gefühl der rauen, kratzigen Ziegel immer noch war. Trotzdem schien es ihr, dass jene Frau, die im Lehmhaus gewohnt hatte, eine andere war, nicht Harriet Blackstone, nicht einmal Harriet Salt. Und sie empfand Mitleid für jene Frau, denn sie sah, dass es in deren Leben nichts Beflügelndes gegeben hatte. Jene Frau hatte sich nur nach dem Alleinsein gesehnt. Sie hatte ein Sammelalbum geführt, aber diesesAlbum hatte nichts Menschliches enthalten, nur Papier und Federn und Blätter – Dinge, die auf sie herabgeflattert waren, als sie allein unter einem leeren Himmel stand. Jene Frau hatte niemals Opium in einer goldenen Höhle geraucht. Jene Frau war nie zu dem weiß gefiederten Vogel geworden, so schön und so böse, dass ihr Liebster tobte, sie ekstatisch verfluchte und sich den Tod wünschte …
    Harriet legte das Gesicht in die Hände.
    Sie wusste, dass Pao Yi noch immer irgendwo auf dem weiten Meer war, und doch malte sie sich schon jetzt seine Rückkehr zum Haus am Reihersee aus.
    Diesmal sah sie, wie sein Sohn Paak Shui ihn ins Haus führte, wo Paak Mei ihn erwartete, ihn stolz hinter einem Tisch mit Speisen erwartete, die sie zubereitet hatte, um Pao Yis Rückkehr als reicher Mann zu feiern. Sie sah, wie Pao Yi seinen Sohn umarmte und sich dann, mit seinem gewohnten lautlos anmutigen Gang, Paak Mei näherte, und er lächelte, lächelte mit Stolz, weil er heimgekehrt war, weil er seine Leidenschaft besiegt, weil er sein Gesicht nicht verloren und keine Schande auf seine Familie geladen hatte. Und dann beugte er sich hinunter (weil Paak Mei kleiner war als er) und küsste sie, und er dachte daran, dass sie vor langer Zeit seine Braut gewesen war und er sie geliebt hatte und dass er sie noch immer liebte …
    Diese Bilder waren so schmerzlich für Harriet, dass sie das dringende Bedürfnis hatte, irgendetwas zu unternehmen, das diese Qual linderte, etwas, das ihr helfen würde, sich eine eigene Zukunft aufzubauen. Sie sprang von der Lehmmauer, schlenderte langsam zurück zum Hotel und ging an den Kleiderschrank, der nur aus dünnen Brettern bestand, genauso wie der Sarg der armen Lilian in Rangiora, und holte ihr Bündel mit dem Gold heraus. Sie schaute es nicht an. Sie wollte nicht daran denken, wie sie und Pao Yi ihre Höhle zerstört hatten, um an das Gold zu kommen. Sie schulterte nur das schwere Bündel und machte sich auf den Weg zur Bank von Neuseeland.
    Dort brannte ein Kohlefeuer. Zwei schwarz gekleidete Bankangestellte saßen hinter dem Schalter, auf dem eine große Messingwaage mit einer Reihe unterschiedlicher Gewichte aufgebaut war.
    Einer der beiden trug pedantisch langsam etwas in das Bestandsbuch ein. Der andere polierte die Gewichte mit einem weichen Tuch. Seine Finger hatten schwarze Flecken vom angelaufenen Metall. Er hielt ein Fünf-Unzen-Gewicht hoch und kniff die Augen zusammen, um die Qualität des Glanzes zu begutachten.
    Die Männer
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