Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
Vom Netzwerk:
Gebäudes stehen, drehte sich nach oben zu der Tür um, von wo eine andere Frau sich herunterbeugte und ihr irgendwelche besorgten Worte zumurmelte. Laurel schüttelte den Kopf, ließ ihr altes unbekümmertes Lächeln aufblitzen. Während sie auf den Park zuging, in dem ich saß, zog sie sich einen blutroten Schal enger um den Hals und steckte ihn mit einem kleinen Weihnachtsbaum aus Emaille fest. Als sie in meine Nähe kam, hatte ihr Lächeln seine Strahlkraft verloren, und als sie an mir vorbeiging, ohne mich zu sehen, sah es ziemlich traurig und zaghaft aus.
    Falls sie mich doch wahrnahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Aber inzwischen war es schon sehr dunkel. Ich trieb hinter ihr her wie eine im Wind wehende Ascheflocke. Sie schaute sich nicht um. Das zimtbraune Haar flatterte über dem Schal, während die Absätze ihrer weichen braunen Stiefeletten über Steine und Beton trappelten.
    Laurel wohnte ganz in der Nähe, in einer von diesen hübschen kleinen Seitenstraßen im Village. Ein viergeschossiges Backsteinhaus; gelbliches Licht quoll warm aus den Fenstern. Sie hatte ihren Schlüssel schon in der Hand und ging schnell hinein, wobei sie auf der Schwelle leicht stolperte und sich wieder fing, unter einem Türsturz mit einem stilisierten Löwenkopf aus Zement, umrahmt von Efeu, der die Mauer hochrankte.
    Ich hätte mir ihre Wohnung vorstellen können, schön eingerichtet, gemütlich und komfortabel.
    Stattdessen ging ich Richtung Downtown. Ich kannte die Stadt nicht sehr gut, aber im Grunde führten alle Straßen zu dem einen Ort, wie Wasser auf einen Abfluss zufließt.
    Südlich der Canal Street kamen die ersten Hindernisse. Manche Bereiche waren gesperrt, sollten abgeriegelt bleiben. Aber die Schutzmaßnahmen waren dürftig, die Sperren durchlässig.
    Hey, Lady
, rief mir irgendein Uniformierter zu.
Hey, Lady, Sie können da nicht
– aber ich ging einfach weiter, ohne mich umzudrehen und ihn anzusehen, und er war so klug, mir nicht zu folgen.
    Der Geruch sagte mir, dass ich nicht mehr weit weg sein konnte. In dieser Gegend waren die Gebäude verlassen, vorübergehend mit Spanplatten und Brettern vernagelt, mit warnenden Spruchbändern verhängt. Der tote Kern der Stadt. Drei Monate nach dem Ereignis war es unmöglich, dass aus dem Zentrum der Ruinen noch immer Rauch aufstieg, und doch meinte ich, ihn zu sehen, ihn einzuatmen.
    Wieder, immer wieder spürte ich mein Herz aufsteigen. Hörte es singen wie eine Klinge, die durch den Wind schneidet.
    Was mich stoppte, waren die Reliquien, die Sterbliche zurückgelassen hatten. Auf einmal waren sie überall, auf den Bürgersteigen oder mit Draht an Maschenzäunen befestigt oder kreuz und quer auf die Spanplatten geklebt, die die zerstörten Zugänge zu der Zone verschlossen. Sterbliche hatten diese Dinge zu Ehren derjenigen angebracht, die sie verloren hatten: Fotografien und Talismane, Blumen und Perlenschnüre.
    Darunter waren oft Straßenaltäre errichtet, kleine brennende Duftkerzen. Ich sah eine verschleierte Frau ankommen und eine anzünden. Einen Moment lang kniete sie dort auf dem Bürgersteig, den Kopf gebeugt. Ich dachte an Laurel, aber es war nicht Laurel. Ihr Kopf war vollständig in einen Schal mit Fransen gehüllt.
    Als sie fortging, trat ich näher – über der Kerze, die sie entzündet hatte, hing das Foto eines kräftigen, lächelnden Jugendlichen, markantes Kinn, weiße Zähne, umrahmt von einem U-förmigen Schnurrbart. Sowohl seine Augen als auch die Nase glänzten. Vielleicht war er ein bisschen betrunken gewesen, als das Bild aufgenommen wurde. Ein Zettel war daneben angebracht, auf dem
Ich liebe dich
stand. Viele Zettel hingen zusammen mit den Fotos an dem Drahtzaun.
Ich liebe dich, ich werde dich nie vergessen. Du lebst für immer in meinem Herzen
. Zettel und Medaillen und Andenken und Blumensträuße, die im Winterwind welkten.
    Ich bin eure Liebe
, hatte man uns gesagt. Und dann …
    O.s Liebe zu Eerie holte sie aus dem Tod zurück, das erste Mal, während meine Liebe zu Laurel sie tiefer in ihn hineintrieb. Die Art, wie O. Eerie liebte, ließ Wasser herabregnen, und ich liebte Laurel so, dass der Regen zu Blut wurde.
    Es war schon vorgekommen, dass eine Göttin ihre Unsterblichkeit preisgab, in die Welt der bloß Lebenden hinabstieg, um mit einem sterblichen Geliebten alles zu teilen – bis hin zu Tod und Verfall. Aber in dieser Nacht auf der Straße konnte ich mich an keine Einzige namentlich entsinnen, die das getan hatte. Und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher