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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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Laurels sterblicher Geliebter war längst tot.
    Sich zu schwächen. Sich selbst so zu schwächen.
    Hier und dort hing Kinderspielzeug zwischen den Andenken. Irgendwie fiel mir dadurch das Plastikdreirad ein, das ich vor dem ehemaligen Haus meines Bruders in Chillicothe gesehen hatte. Ich zog mir das Teppichmesser über die Handfläche, um den Gedanken wegzuschaben.

80
    Gegenüber von Laurels Wohnung war ein weiterer kleiner Park, der dort, wo eine Straße in eine Avenue mündete, ein Dreieck aus ansonsten nutzlosem Raum füllte. Ein brusthoher Zaun aus Eisenspeeren umfriedete ihn. Der Boden war sandig, und die Bäume waren größer als Ginkgos, aber ohne ihre Blätter wusste ich nicht, was für welche es waren.
    Dort saß ich und wartete auf die Dunkelheit.
    Ich hatte eine Reisetasche für das Gewehr samt Zubehör gekauft, weil ich fand, das wäre etwas weniger auffällig als der lange Koffer, in dem ich das Gewehr bekommen hatte. Die Tasche konnte ich an einem Ende sogar gerade weit genug öffnen, um die Spitze des Gewehrlaufs auf den Eisengitterzaun zu legen, und am anderen Ende, um durch das Nachtsichtzielfernrohr über die Avenue hinweg in die Straße hinein zu fokussieren, auf den Türeingang mit dem efeubekränzten Löwenkopf darüber.
    Von irgendwoher hörte ich Weihnachtsmusik. Aus einem Auto – der Klang wurde leiser, als es vorbeigefahren war. Zwei Polizisten schlenderten vorbei und sahen mich nicht. Vielleicht sahen sie eine unscheinbare Frau mittleren Alters mit einer unförmigen Tasche. Laurel hatte unsere Verabredung zu einem Drink ziemlich spät angesetzt. Ich sah sie kurz im Zielfernrohr, als sie die Haustürstufen herabkam, und das grün fluoreszierende Bild im Glas schwamm auf mich zu. Ich glaube, sie war ein wenig abgelenkt, denn sie ging an dem Park entlang, ohne mich zu sehen, und betrat eine Bar auf der anderen Straßenseite. Ich schloss den Reißverschluss der Tasche und folgte ihr hinein.
    »Ah«, sagte Laurel und zeigte ihre Grübchen. »Da bist du ja.«
    Sie wickelte ihren Schal ab und zog den Wintermantel aus. Darunter trug sie zu meiner Überraschung nur ein ärmelloses rotes Hängerkleid. Sie schauderte dramatisch, sodass man instinktiv den Arm um sie legen wollte, aber wir saßen einander an einem kleinen quadratischen Tisch gegenüber.
    »Ist dir nicht kalt?« fragte Laurel.
    Ich zuckte die Achseln.
    »Die Burger hier sind sehr zu empfehlen«, sagte Laurel.
    Sie ging zur Bar und kam mit einem Bourbon pur für mich und einem Single Malt Scotch für sich zurück. Als sie sich setzte, suchte ich ihren nackten Oberarm nach Narbenspuren ab. Möglicherweise waren da zwei dünne weiße Linien; in dem dämmrigen Licht war das schwer zu sagen. Laurels Fleisch war ein wenig erschlafft, aber bei dieser gnädigen Beleuchtung sah sie immer noch gut aus.
    »Die haben hier eine richtig gute Jukebox«, sagte Laurel und warf ihr glänzendes, strahlentherapiertes Haar zurück, als sie den Kopf wandte, um zu der Jukebox rüberzuschauen. »Die ganzen guten alten Sachen.«
    Der Raum wurde wärmer, als wir unseren Whiskey tranken und immer mehr Leute hereinkamen. Überwiegend jüngere, aber manche auch etwa in unserem Alter. Bei einem dieser guten alten Songs aus der Jukebox wurde vereinzelt und zögerlich getanzt.
    Wir unterhielten uns ziemlich stockend. Laurel war stoned von ihren Schmerzmitteln, wie mir klar wurde. Sie überspielte es ziemlich gut, aber es dämpfte sie auf einer tieferen Ebene, die unter der Wärme des Scotchs lag. Sie sprach ein wenig weitschweifig von den Tagen, bevor und nachdem die Flugzeuge in die Türme geflogen waren. Dass sie zufällig in der Nähe gewesen war, als sie einstürzten (irgendein banaler, belangloser Grund). Dass Schock, Grauen, Trauer und Entsetzen allmählich zu schlichter Unannehmlichkeit verblassten. Man lebte notgedrungen damit, ein trockenes, geschrumpftes Etwas.
    Im Gegenzug erzählte ich ihr einige Kasinogeschichten. Ein paar davon brachten sie zum Lächeln. Manchmal schien ihre Hand ein bisschen zu zittern, wenn sie ihr Glas an den Mund führte. Einmal streckte ich, ohne zu überlegen, die Hand aus und tupfte ihr mit einem Taschentuch einen Tropfen Scotch vom Kinn. Unsere Gesichter kamen sich sehr nah, berührten sich aber nicht.
    Und obwohl nichts gesagt worden war, verabredeten wir ein weiteres Treffen. Kaffee, am nächsten Morgen. Der Coffeeshop war gleich neben der Bar, nur zwei Häuser weiter. Mir kam der Gedanke, dass Laurel es geschafft hatte,
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