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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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dem sandigen, sengend heißen Wind der Wüste, gingen wir getrennte Wege.

83
    Liebe. Der Begriff machte mir zu schaffen. Das Wort. Seit Laurel es zuletzt ausgesprochen hatte. Damals hieß es andauernd Liebe hier und Liebe da und Liebeliebeliebe, bis auch der letzte Sinn von diesen Lauten abgescheuert war und bloß noch ein nichtssagendes kleines Piepsen übrig blieb. Wie das letzte Ausatmen einer Maus, wenn ihr Rückgrat in der Falle zerbricht. Aber früher einmal hatte es etwas bedeutet.
    Ich bin eure Liebe

    Dieses Flüstern verfolgte mich, als ich mich mit meinem Bolzenschneider abmühte, um an den Ort zu kommen, den die Einheimischen
Ground Zero
nannten – die Leichengruben, wo einst die Türme gestanden hatten. Die Ketten und Vorhängeschlösser waren so dick, dass ich sie nicht zerschneiden konnte, letztlich musste ich mich durch die Umzäunung quetschen. Dabei stieß ich gegen weitere Reliquien, die an dem Drahtgeflecht aufgehängt waren. Ein Foto fiel herab, ein Zettel, eine Heiligenmedaille und ein Origamikranich. Ich schlitterte auf den Absätzen hinab und beendete die Rutschpartie auf dem Steißbein.
    Staub stieg auf, toxischer Treibsand. Meine Nasenlöcher füllten sich mit dem Geruch des Todes. So viele Tode, Hunderte über Hunderte. Opferrauch stieg in die Höhe.
    Hier war es sehr, sehr dunkel. Ich war schmerzhaft gelandet und krallte die Hände in den Staub. Diese ganze Zone der Stadt war noch immer pechschwarz, und der nächtliche Himmel über dem Schacht, in dem ich lag, war längst nicht klar.
    Zero
    0
    0
    Ich ließ den Staub in meinen Händen durch die Finger rieseln und entdeckte dann etwas, das aussah wie ein Medaillon mit Kette. In der anderen Hand lag ein gezacktes Knochenstück. Ich drückte die Spitze in meinen Handteller und hörte auf einmal ein Summen –
    00000000000
    – wie ein gespenstisches Kreischen. Oder vielleicht war es ein Lied. So viele Tote, der Rauch des brennenden Fetts ringelte sich hoch zwischen den Hörnern des Altars.
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    Ein Loch in der Welt. Alles Mögliche konnte da durchkommen.
    Ich strich über die Kerbe in dem Knochen, wo das Mark gewesen war, erstaunt über den jähen stechenden Schmerz in meinem Herzen. In Laurels Büro hatte ich mich an D. erinnert, nicht an die Hülle seines Kadavers, der jetzt in Ketten lag, sondern an D. in seiner veränderten Gestalt – und als wir ihn als Kind erschlugen, hielt eine von uns ihm einen Spiegel vors Gesicht, nicht nur, um ihn von den Messern abzulenken, sondern auch, um seine Seele für ihre Wiederkunft einzufangen und festzuhalten. Sie würde gewiss kommen.
    Am Ende sagten alle, das Einzige, was wir je gehabt hätten, sei das Morden gewesen, aber es hatte auch Liebe im VOLK gegeben.
    0
    was es gegeben hatte
    meine Liebe

    Selbst hier war ein verirrtes Leuchten davon, und über mir konnte ich ein schwaches Licht sehen, das auf den Rauten des Zauns lag, noch heller auf den kaputten Maschen, die ich soeben durchtrennt hatte, aber unten auf dem Grund des Schachts, wo ich lag, herrschte wirklich absolute, seidige Dunkelheit, die Farbe der Nacht, es sei denn, ich sah alles nur monochrom, weil mit meiner Sehkraft etwas nicht stimmte. Der gespenstische Gesang stieg an, weitete sich aus – ein weinender Wind. Ich schloss wieder und wieder die Hand um den Knochen, und in der anderen sprang das Medaillon auf, aber es war zu dunkel, um das Bild zu erkennen, und es war ohnehin zu einer winzigen weißen Ascheflocke geschrumpft. Wie ich das VOLK doch vermisste, und zu meiner bestürzten Überraschung merkte ich, dass ich auch andere Menschen vermisste. Manche, deren Namen ich längst vergessen hatte. Am meisten Laurel.
    Es war, als hätte sich diese vollkommene Dunkelheit selbst aufgerissen, um mir zu erlauben, sie alle in ihren Spektralfarben zu sehen. Wie es mich schwächen musste, dieses …
Fühlen
. Als würde die Sterblichkeit auch mich niederringen. Als könnte die Sterblichkeit mich doch niederringen.
    Und mit einer noch tieferen Bestürzung dachte ich:
Was, wenn ich nicht tun kann, weswegen ich herkam?
    Noch war keine Spur von Tageslicht zu erkennen, aber irgendwie wurde der Panzer der Dunkelheit schwächer. In einiger Entfernung ertönte das Geräusch eines Krans … Wenn ich noch viel länger hier bliebe, würde man mich sehen.
    Dort, in einer Ecke, sah ich eine Möglichkeit herauszuklettern, und ich bewegte mich darauf zu. Meine Hände waren jetzt leer, denn mir waren die Andenken entglitten, die sie gehalten
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