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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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überwiegend in einem Umkreis zu leben, der noch kleiner war als das elende Provinzstädtchen, in dem ich aufgewachsen war. Wir waren nur zwei Blocks von ihrer Schule entfernt.
    Als sie ihr Portemonnaie öffnete, um unsere Rechnung zu bezahlen, fiel ein Kärtchen heraus, ohne dass sie es merkte. Ich bückte mich unter den Tisch, um es aufzuheben. Ein laminiertes Foto, etwas kleiner als eine Spielkarte. Ich verbarg es in der hohlen Hand. Ariadne war jünger darauf, vielleicht Anfang zwanzig. Irgendwer hatte einen von O.s alten Songs in der Jukebox gewählt, aber eigentlich brauchte ich diesen Fingerzeig nicht – die Ähnlichkeit war auch so offensichtlich.
    Wann, fragte ich mich. Es konnte nicht während ihres Abstechers nach Malibu gewesen sein, weil zu viel Zeit dazwischen lag. Man hätte es ihr angesehen, und dem war nicht so. Also musste es beim allerletzten Mal gewesen sein, als wir alle zusammen waren.
    Ich schnippte das Foto auf den schwarzen Schellacktisch. Laurel ergriff es mit einem leicht wehmütigen Gesichtsausdruck und schob es wieder in ein Fach ihres Portemonnaies.
    »Ich hab ihn nie geliebt, weißt du«, sagte sie mit dem gleichen verwaschenen, fernen Ausdruck im Gesicht. Und sie schüttelte den Kopf, oder er wackelte von seinem eigenen Gewicht. »Niemand hat Orpheus geliebt – das war nur die Musik. Geliebt habe ich dich.«

81
    Wir begegneten O., der in der Wildnis umherzog und zur Gitarre traurige Lieder über Eurydike sang, die er aus dem Reich des Todes geholt hatte, die aber zurückgekehrt war, um für immer dort zu bleiben … Genauer gesagt waren wir diejenigen, die umherzogen, während Orpheus auf einem Stein saß, im Schneidersitz, mit seiner honigfarbenen Gitarre auf dem Schoß, und Schlangen und Krötenechsen und Kojoten herbeikamen, um seinem Trauergesang zu lauschen. Laurel und ich reihten uns in das Publikum von Tieren ein und sahen gewiss selbst wie wilde Tiere aus, nachdem wir tagelang getrampt und durchs Unterholz gelaufen waren – die meiste Zeit hatten wir uns nicht mal getraut zu trampen, nach der Razzia auf der Ranch.
    O. gab uns ein paar Löschblatt-Trips, oder wir gaben sie ihm – ich bin sicher, wir waren schon ziemlich drauf, als wir auf ihn stießen. Ja, Laurel hatte ein ganzes Blatt in ihrer Sandelholzkiste, bemalt von einem Künstler, der die einzelnen Trips mit verschlungenen Ranken und psychedelischen Blüten verziert hatte, und in der Mitte jedes Quadrats das düstere gelbe Auge einer Eule …
    Wir hatten keine Ahnung, dass die Bullen nicht wegen der Morde gekommen waren. Bei der Razzia ging es zunächst um irgendeinen Zoff wegen geklauter Autos, aber das wusste niemand, als sie auftauchten, und Laurel und ich erfuhren es erst, nachdem die ganze Geschichte mit O. gelaufen war.
    Beim ersten Sirenengeräusch hatte Laurel wieselflink ihre Sandelholzkiste gepackt, war aus dem Zimmer gehechtet und unter das baufällige Gebäude gekrochen. Ich begriff überhaupt nicht, was sie so aufgeschreckt hatte, aber ich schnappte mir meinen Beutel und folgte ihr, ohne zu überlegen. D. war der einzige andere aus dem VOLK , der die Zeit oder die Gedankenschnelle hatte, sich zu verstecken. Er quetschte sich in eine sechzig mal neunzig Zentimeter große Kommode unter einem Waschbecken im Keller der Lodge; eine einzige Haarsträhne hing noch heraus, und die verriet ihn. Aber den Teil erfuhren wir erst später aus den Nachrichten.
    Stadtpolizei und Sheriffs waren zusammen gekommen – ein gemeinsamer Einsatz mit Dutzenden von Dienstmarken. Sie trieben das ganze VOLK aus den Gebäuden in den Hof vor der Lodge, bis es eine große, nervöse, streitlustige Ansammlung war. Unter dem Boden aneinandergepresst, hörten wir die Springerstiefel auf den splittrigen Brettern über uns stampfen, konnten sie fast spüren.
    Dann leuchteten ein paar dicke Taschenlampenstrahlen unter das Gebäude; hinten an dem Ende mit dem Schulbus, noch zu weit weg, um uns zu erfassen.
    Über uns war es irgendwann still geworden. Ich stieß Laurel mit dem Ellbogen an und robbte nach draußen, den Bauch flach auf den kühler werdenden Sand gedrückt. Zum Glück war es eine mondlose Nacht. Wir bewegten uns durch sie hindurch, umhüllt von der heißen, anschmiegsamen Dunkelheit. Als wir den Schutz einiger Büsche erreicht hatten, sprangen wir auf und rannten los.
    Wir liefen geduckt ein paar Dutzend Schritte von der Böschung des Highways entfernt, gingen jedes Mal in Deckung, wenn ein Scheinwerferpaar auftauchte. Kurz
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