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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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dass ein Kind im Haus ist.
    Ich hatte aus der Presse davon erfahren und es mehrfach im Fernsehen gesehen. Aber ich habe die meisten Details vergessen oder sie nie gewusst. Fest steht jedenfalls, dass das Leben meines Bruders aus den Fugen seiner alltäglichen Grausamkeiten geraten war, seiner gewohnheitsmäßigen häuslichen Gewalt, um zu etwas heranzuwachsen, das weit spektakulärer war, Geiselnahme von Mutter und Kindern, Belagerung und Anrufe durch die Polizei, Waffen, Megafone, Vermittler, die am Telefon drohten und flehten. Terrell hatte Benzinkanister gehortet, um das Haus abzufackeln, aber er kam nicht mehr dazu, sie anzuzünden. Der Scharfschütze einer Spezialeinheit schaltete ihn aus, aber da waren die anderen schon tot.
    Ich war überrascht und auch wieder nicht überrascht, dass ich seine Entrückung verpasst hatte. Als hätte ich immer gewusst, dass er alle mitnehmen würde, die ihm wichtig waren. Alle außer mir.
    Was die Vorgänge im Haus betrifft, so ließ mich meine Fantasie im Stich. Das Einzige, was ich mir vorstellte, war der Scheiterhaufen. Wie das Haus und jedwede Welt, die es enthielt, über seinem geschmolzenen Kern einstürzte. Wie Haut und Knochen und Talg knisterten und von der Opfergabe meines Bruders Rauch zum gesprenkelten Himmel aufstieg.
    Nun jedoch unterschied sich das Haus durch nichts von anderen. Es barg neues sterbliches Leben.
    Ich stieg wieder ins Auto und überquerte den Fluss. Der Friedhof war von einem Eisenzaun mit Speerspitzen umgeben. Das Tor hatte man seit meinem letzten Besuch mit einer Kette gesichert. Ich öffnete sie mit dem Bolzenschneider und ging hinein.
    Das hohe Gras knirschte unter meinen Schritten, weiß und brüchig von glitzerndem Frost. Ich war länger nicht mehr da gewesen und brauchte eine Weile, bis ich die Stelle fand. Gehen wir davon aus, dass keine gefühlvollen Sprüche in die Steine gemeißelt waren, nur die Daten und die vier Namen. Ich hatte mich so angezogen, wie es ihm gefallen hätte, kurzer Rock ohne Unterwäsche, daher musste ich mich nur hinstellen und die Beine spreizen, um auf sein Grab zu pissen.

75
    Der Wagen kroch am Wasser entlang, am großen öligen Fluss von Babylon. In der Bucht stand die Göttin auf ihrem Felsen, die stumpfe Metallfackel in den Himmel gereckt.
    Dahinter die glitzernden Lichter der Stadt. Dicht zusammengepackt, wie Juwelen in einem Sarg. Ich sah zwei Säulen aus Dunkelheit, dort, wo die Türme gestanden hatten, und sie zerfielen langsam im ersten Licht der Morgendämmerung.
    Reißt es nieder. Reißt es nieder
. Bringt alles zu Fall.
    Als der Himmel verblasste und es heller wurde, verwandelte sich die schwarz geölte Oberfläche des Flusses in Silber. Der Wind warf Wellen auf, und ein Kahn schob sich langsam hindurch. Möwen kreisten und kreischten über dem Wasser.
    Der elektrische Schein erlosch in den Fenstern, und Tausende der Gebäude, die übrig waren, wandten ihre blinden stählernen Gesichter dem Wasser und dem Wind zu. Entlang der gegenüberliegenden Flussseite sah ich die winzigen dunklen Gestalten von Sterblichen, die zu ihren Besorgungen hasteten, emsig und unbedeutend wie Ameisen.
    Ich streckte meine Hand aus, sehnte mich nach dem Triumph meines Vorhabens.
Tochter Babylons, du Verwüsterin, wohl dem, der deine Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert
.
    Schweigen.
    Das raue Summen meines Motors. In der Stadt gegenüber ertönte ein Pfiff, ein Quietschen und Rasseln, als sich ein dreißig Stockwerke hoher Kran in Bewegung setzte.
    Ich steuerte den Wagen in die hallende Höhlung des Tunnels und dachte verbittert, was auch immer niedergerissen wird, wird bestimmt wieder aufgebaut.

76
    Im Vorzimmer von Laurels Büro fing mich eine Sekretärin ab. Hatte ich einen Termin? Nein. Mein Name? Ich erfand irgendwas. Wusste sie, worum es ging? Kein Kommentar.
    Ich machte mich darauf gefasst, zu warten. Nicht lange. Die Schuluhr über dem inneren Türsturz bewegte sich in Minischrittchen. Irgendwo ertönte eine Glocke. Junge Stimmen und hastende Füße wurden hörbar. Dann öffnete sich die Tür, und Laurel beugte sich heraus, die Hände rechts und links am Rahmen abgestützt. Ihre grünen Augen waren zunächst unfokussiert, wurden dann aber klar.
    »Komm rein«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. Es gefiel mir, dass sie keine Angst zeigte. Sie hatte nur für einen Moment überrascht gewirkt.
    Drinnen standen ein verschnörkelter Schreibtisch und eine Standuhr, und um einen kleinen Perserteppich herum waren
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