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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Madison Smartt Bell
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ein Couchtisch und drei Polstersessel angeordnet. Auf einem davon ließ Laurel mich Platz nehmen, dann setzte sie sich in einen der anderen.
    »Mein Vorgänger«, sagte sie mit einem Achselzucken, als sie sah, dass ich das Mobiliar musterte. Die kleine Schule war reich, und Laurel arbeitete im Bereich Förderung, wo sie für die Beschaffung von Sponsoren- und Spendengeldern zuständig war. Ihre Berufswahl kam mir eigenartig vor, aber das war ihr mit meiner wahrscheinlich ebenso gegangen.
    Ich hatte den Eindruck, dass immer mal wieder eine Welle durch sie hindurchlief und dass sie darunter kraftlos wurde und sich beugte. Nichts Auffälliges, bloß ein leichtes Erschlaffen ihres Körpers, ein Abschweifen der Augen. Hätte jemand zu uns hereingeschaut, hätte er wohl gedacht: Zwei Frauen, die sich gut gehalten haben, treffen sich … und trinken Tee.
    »Kaffee«, rief Laurel ins Vorzimmer. Die Sekretärin brachte ihn mit einem steifen Lächeln. Wir tranken. Ich blickte Laurel weiter an. Sie wirkte weicher, verschwommener als früher, jedenfalls ihr Körper. Ihr Gesicht hatte sich nicht so sehr verändert. Das Kinn hatte etwas an Kontur verloren, und um die Mundwinkel und Augen waren Fältchen von ihrem Lachen und ihrem Lächeln. Ihr zimtbraunes Haar war voll und glänzend.
    »Das kommt von der Bestrahlung«, sagte Laurel.
    »Was?«
    »Das Haar.« Laurel hob eine Strähne an, um sie mir zu zeigen. »Nach der Bestrahlung wächst es besser als zuvor. Warum auch immer.«
    Ich musste daran denken, wie sie früher oft meinem Blick gefolgt war, um mit mir zusammen anzusehen, was auch immer ich gerade betrachtete. Eine Welle kam über sie. Wo war sie?
    »Entschuldige«, sagte Laurel. »Das kommt von den Medikamenten.«
    »Du hast mich hochgehen lassen«, sagte ich. So ein altertümlicher Ausdruck. Wahrscheinlich hatte ihre Wortwahl meine beeinflusst.
    »Hab ich?« fragte Laurel. Mit einem geistesabwesenden Lächeln stellte sie ihre Tasse auf den Unterteller. Eine zarte weiße Tasse, skandinavisches Porzellan. Ich fragte mich kurz, ob es nicht besser wäre, arm zu wirken, wenn man Geldgeber überzeugen wollte.
    »Ach, Mae«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich nehme jede Menge Zeugs gegen die Schmerzen. Die Leute hier sind nett und decken mich, aber die meiste Zeit weiß ich nicht, wo ich bin oder was ich tue.« Die schlaffe Haut um ihre Kehle straffte sich, als sie ihr Kinn hob und mich ansah. »Oder was ich getan habe.«
    »Die Leute hier decken dich?«
    Laurel lachte. »Ich bin beliebt. Ich hab ihnen im Laufe der Jahre viel eingebracht. Und es wird nicht mehr lange dauern. Alle Ärzte haben gesagt, bis vergangenen Monat wäre ich tot. Ich habe Eierstockkrebs, Mae. Nicht mehr viel zu machen.«
    »Das hast du mir erzählt«, sagte ich. »Am Telefon.«
    Laurel biss sich auf die Lippe. Sie hatte mich auch am Telefon verpfiffen. Vielleicht dachte sie in diesem Moment daran, vielleicht aber auch nicht. Der wabernde Blick in ihren Augen, als sie sie niederschlug, mochte eine Art Resignation bedeuten.
    »Ich habe große Schmerzen«, sagte sie.
    »Aha«, sagte ich. Wer hat die nicht? Aber der Gedanke an ihr Leiden nötigte mir einen gewissen Respekt ab.
    »Morphium.« Laurels Kopf bewegte sich hin und her. »Ich höre Dinge. Sehe Dinge, die es nicht gibt. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt je angerufen hast.«
    Die Stimmen der Götter, dachte ich und fragte mich, ob sie sie noch immer hörte. Oder wieder.
    »Ich bin hier«, sagte ich.
    Darauf antwortete Laurel nicht. Ich schaute mich um und sah ein Bild auf ihrem Schreibtisch. Eine junge Frau mit langen schwarzen lockigen Haaren, tiefdunklen Augen und einer Elfenbeinhaut mit schwacher Goldtönung.
    »Meine Tochter«, sagte Laurel. »Ariadne.«
    »Ah«, sagte ich. »Wie alt ist sie?«
    »In den Dreißigern«, sagte Laurel halb scherzhaft, halb ausweichend.
    Meine Gedanken überschlugen sich für einen Moment. Ich riss mich zusammen, betrachtete Laurel, suchte nach der alten Härte unter dieser eigenartigen Weichheit, die sie jetzt überzog.
    »Jedenfalls«, sagte ich, »ist sie schön. Atemberaubend.«
    Da setzte Laurel sich ruckartig auf, und ich spürte ihren alten Geist in ihr, wie eine Schlange, die sich auf ihrer Wirbelsäule aufrichtet.
    »Du kannst sie nicht haben, Mae«, sagte sie.
    »Sie ist eine Sterbliche«, sagte ich. »Jeder kann sie haben.«
    »Denkst du etwa, ich will so sterben?« zischte sie. Laurels grüne Augen blitzten auf, erloschen dann wieder. Sie schüttelte
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