Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
der Leinwand. Und sie dachte: Warum stand Vater einfach nur untätig neben mir? Warum hat er mich nicht um etwas gebeten? Das hatte er nie getan. Und sie hasste ihn dafür. Wusste er denn nicht, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als etwas für ihn tun zu können, irgendetwas? Sie war seinen Spuren gefolgt, doch als sie den Bankräuber gefunden hatte, den Mörder, den Witwenmacher, und ihren Vater rächen wollte, ihm ihre Rache geben, die Rache der Familie, hatte er bloß dort neben ihr gestanden, still wie immer, und es abgelehnt.
    Und jetzt war sie also dort, wo er selbst gestanden hatte. Wie all die Menschen, die sie nachts im House of Pain auf den Videos der Überfälle überall auf der Welt gesehen hatte, und bei denen sie sich immer gefragt hatte, was sie wohl denken mochten. Jetzt war sie an der Reihe und sie wusste es noch immer nicht.
    Dann hatte jemand das Licht ausgemacht, die Sonne war verschwunden und sie war in Kälte versunken. Und es war in dieser Dunkelheit, in der sie wieder zu sich gekommen war. Als wäre das erste Erwachen bloß ein Traum gewesen. Und sie hatte wieder zu zählen begonnen. Aber jetzt zählte sie Orte, an denen sie noch nicht gewesen war, Menschen, die ihr noch nicht begegnet waren, Tränen, die sie noch nicht geweint hatte, und Worte, die sie noch nie gehört hatte.
     
    »Doch«, sagte Harry. »Ich habe diesen Beweis.« Er zog einen Zettel heraus und legte ihn auf den Tisch.
    Ivarsson und Møller beugten sich gleichzeitig vor und wären beinahe mit den Köpfen zusammengestoßen.
    »Was ist das?«, bellte Ivarsson. »›Ein schöner Tag‹?«
    »Kritzeleien«, sagte Harry. »Geschrieben auf einem Zeichenblock in der Gaustadklinik. Zwei Zeugen, ich selbst und Beate Lønn, waren anwesend und können bezeugen, dass Trond Grette das geschrieben hat.«
    »Ja und?«
    Harry blickte in die Runde. Dann wandte er ihnen den Rücken zu und trat langsam ans Fenster. »Habt ihr schon mal eure eigenen Kritzeleien angeguckt, wenn ihr beim Schreiben an etwas anderes gedacht habt? Die können ganz schön entlarvend sein. Deshalb habe ich diesen Zettel mitgenommen, um zu überprüfen, ob das Gekritzel irgendeinen Sinn hat. Zu Beginn tat es das nicht. Ich meine, wenn deine Frau gerade erst ermordet worden ist und du auf der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik sitzt und wieder und wieder ›Ein schöner Tag‹ schreibst, bist du entweder komplett verrückt oder du schreibst das genaue Gegenteil von dem, was du denkst. Aber dann bin ich auf etwas gekommen.«
    Die Stadt war grau und blass wie das Gesicht eines alten, müden Mannes, aber heute, in der Sonne, leuchteten die wenigen Farben, die sie noch hatte. Wie ein letztes Lächeln, ehe man Abschied nimmt, dachte Harry.
    »Ein schöner Tag«, sagte er. »Das ist weder ein Gedanke noch ein Kommentar oder Zustand. Das ist ein Titel. Von einem Aufsatz, den man in der Grundschule schreibt.«
    Eine Heckenbraunelle flog am Fenster vorbei.
    »Trond Grette dachte nicht, er schrieb einfach automatisch. Wie er es in seiner Schulzeit getan hatte, als er sich die neue Handschrift antrainiert hatte. Jean Hue, unser Graphologe, hat bereits bestätigt, dass die Person, die diese Worte geschrieben hat, auch den Abschiedsbrief geschrieben hat. Und die Schulaufsätze.«
    Es war, als hake der Film und als friere das Bild ein. Nicht eine Bewegung, nicht ein Wort, nur die immer gleichen, schleifenden Geräusche eines Kopierers draußen auf dem Flur.
    Zum Schluss war es Harry selbst, der sich umdrehte und die Stille brach: »Mir scheint, ihr seid einverstanden, dass Lønn und ich uns diesen Trond Grette mal für ein klitzekleines Verhör vornehmen.«
     
    Scheiße, Scheiße! Harry versuchte, die Pistole ruhig zu halten, doch von den Schmerzen wurde ihm schwindelig, und die Windböen zerrten und schubsten seinen Körper hin und her. Trond hatte auf das Blut reagiert, wie Harry es gehofft hatte, und einen Augenblick lang hatte Harry freie Schussbahn gehabt. Doch er hatte gezögert, und jetzt stand Trond wieder hinter Beate, so dass Harry bloß ein Stück von Kopf und Schulter sah. Sie ähnelte ihr, mein Gott wie sie ihr ähnelte! Harry kniff die Augen zusammen, um sie wieder in den Fokus zu bekommen. Die nächste Böe war so stark, dass sie den grauen Mantel von der Bank riss, und einen Augenblick lang sah es so aus, als würde ein unsichtbarer Mann, einzig mit einem Staubmantel bekleidet, über den Tennisplatz rennen. Harry wusste, dass es einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher