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Die Fährte der Toten

Die Fährte der Toten

Titel: Die Fährte der Toten
Autoren: Michael White
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den Schatten. Sie kann es spüren. Etwas Altes. Böses. Und gleichzeitig Vertrautes. Seltsamerweise ist sie sich sicher, dass es wegen ihr hier ist. Aber nicht, weil es ihr ein Leid antun will. Sondern weil es auf sie gewartet hat.
     
    Lee konzentriert sich und lauscht in die Nacht hinein. Zuerst hört sie nichts. Doch dann nimmt sie es wahr. Zuerst hält sie es für das Flüstern des Windes. Ein kaltes Heulen. Schmeichelnd. Drängend. Fordernd.
     
    Komm zu uns.
     
    Sie versucht den Ursprung der Stimme zu finden, doch es ist zwecklos. Sie scheint von überall und nirgends zu kommen. Als würde sie sie umgeben wie die kalte Nachtluft, sie zu sich rufend mit ihrem lockenden Klang.
     
    Komm.
     
    Komm und sieh.
     
    Lees Blick bleibt am Eingang der alten Missionskirche hängen, und sie muss an das Maul eines uralten Monstrums denken. Langsam steigt sie die ausgetretenen Stufen vom Dach herunter in den leeren staubigen Innenhof und nähert sich mit bedächtigen Schritten dem Eingang.
     
    Komm. Komm zu uns .
     
    Nach einem letzten Moment des Zögerns gibt sie sich schließlich einen Ruck und betritt das Innere der Kapelle. Es ist kalt und dunkel, und in der Luft liegt der Geruch der Jahrhunderte. Es überrascht sie nicht im Geringsten, dass sie vor einer Treppe steht, die in die Tiefe führt. Langsam geht sie die Stufen hinab, wo das abwesende Licht bereits auf sie wartet, sie zärtlich umhüllend wie ein seidenes Tuch.
     
    ***
     
    Lee findet sich in einem dunklen muffigen von abgestandener Luft durchwaberten Gang wieder. Sie passt einen Moment nicht auf und stößt sich den Kopf an der Decke, während sie sich leise fluchend umsieht. Langsam passen sich ihre Augen dem Halbdunkel an, und sie erblickt scheinbar endlos verlaufende halb verrottete hölzerne Regale, beladen mit menschlichen Gebeinen. Ihr läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
     
    Der Tod ist ihr alles andere als fremd, und doch – dieser Anblick macht sie nervös. Ein Beinhaus. Und es ist riesig. Ihre Hand spielt mit ihrem Feuerzeug, und sie schilt sich eine Närrin. Wahrscheinlich würde hier unten alles wie Zunder brennen, und das wäre das Letzte, was sie jetzt braucht. Und dennoch, der Gedanke an Wärme und Licht hat etwas Tröstliches inmitten dieser Landschaft des Todes. Sie dreht sich um, doch der Eingang in dieses Totenlabyrinth scheint von der Schwärze aufgesogen worden zu sein. Egal, weiter.
     
    Lee bewegt sich mit langsamen Schritten, die durch den gestampften Lehmboden gedämpft werden, als sie plötzlich wieder die Stimmen zu hören glaubt. Zuerst ist es nur der Hauch eines Flüsterns, doch dann schwillt es immer mehr an, bis sie die einzelnen Worte verstehen kann.
     
    Du bist gekommen. Nach all der Zeit. Vollstreckerin unserer Rache.
     
    Lee runzelt die Stirn.
     
    'Wer seid ihr?'
     
    Wir sind die, die keine Ruhe finden. Wir sind die unruhigen Toten.
     
    'Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich hierher gerufen?'
     
    Wir wollen Frieden. Unsere Tode sind ungesühnt seit langer Zeit. Nur der Untergang des Wesens, durch dessen Hand wir starben, wird uns Genugtuung verschaffen. Bring uns den, den sie Frank nennen. Gib ihn uns.
     
    'Warum sollte ich das tun? Er wird sterben – durch meine Hand! Ist euch das nicht genug?'
     
    Nein! Wir waren einst wie du. Er schuf uns, so wie er dich erschuf. Zu seinem Vergnügen. Er machte uns zu den Sklaven seiner Begierde. Er jagte, tötete und verstümmelte uns, bevor er schließlich unsere Seelen fraß, um seiner Lust zu frönen. So wie er es mit dir tun will. Dies wird ihm nicht gelingen. Du wirst ihn töten, ihn vernichten. Du bist stärker, als wir alle es je waren. Doch ihn zu strafen ist nicht deine Aufgabe. Es ist unser Recht! Schließe einen Pakt mit uns. Gib uns, was uns gehört. Sei unser Avatar. Gib uns Frank, und wir werden dir deinen größten Wunsch erfüllen.
     
    Mein größter Wunsch. Lee nickt langsam. Ja, ihr größter Wunsch. Ein Angebot, das einfach zu verlockend ist.
     
    'Was muss ich tun?'
     
    Die Stimmen beginnen erneut zu flüstern, und ein kaltes Lächeln schleicht sich in Lees Gesicht.
     
    'So sei es.'
    ***
     
    Lee spürt den kalten Nachtwind über ihren Nacken streichen wie eine eisige Hand und schrickt auf. Sie muss eingenickt sein, auch wenn sie weiß, dass das unmöglich ist. Doch sie hat das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen, und das muss es auch gewesen sein – ein Traum, denn sie ist immer noch auf dem Dach, von dem aus sie einen so wundervollen
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