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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Strom anfüllte. Gaspard erwachte. Er schnappte nach Luft, ein Speichelfaden rann von seinen Mundwinkeln bis zum Hals. Er wischte ihn ab, strich sich übers Gesicht. Er hatte nur kurz geschlafen, doch die Stufen schnitten ihm in den Rücken. Er stand auf und lief an den Hallen vorbei, wo sich Menschen- und Tierschreie zu einer Klage vereinten. Ein Mann stieß ihn an die Schulter, ohne sich umzudrehen. Gaspard schaute zu, wie sein mächtiger Rücken in den Hallen verschwand, dann ging er eilig auf die Rue de la Tonnellerie zu. Eine zerlumpte Menge scharte sich zu einem Kreis, kämpfte sich mit den Ellbogen vorwärts, entblößte johlend ihre Zahnstümpfe. Gaspard machte einen Bogen, erhaschte einen Blick auf zwei Zwerge auf einer Holzbühne, die sich gegenseitig den Hintern versohlten und den ausgelassenen Gesichtern ihre unförmigen Gesäße zur Schau stellten. Eine Schar Kinder lief in umgekehrter Richtung die Straße herunter. Sie prallten gegen ihn, beinahe fiel er hin. Ein Hund jaulte unter Schlägen auf. Drei alte Frauen auf einer Bank, die zerschundenen Füße gut auf dem Boden verankert, verfolgten ihn mit ihrem Blick, als er an ihnen vorbeiging. Seit dem Vortag hatte er mit niemandem gesprochen. Paris nahm ihn vorsichtig, misstrauisch in Augenschein und öffnete seine Straßen unter seinem Schritt, wie die Hure ihre Strümpfe abstreift, ohne den Freier aus den Augen zu lassen. Ein Gerüst knarrte, stürzte auf die Straße und warf erdigen Qualm auf. Die Alten grölten, die Menge wandte sich von den Zwergen ab. Gaspard war bald von Gaffern umringt, die mit dem Blick die Trümmer nach Leichen absuchten. Aus einem Stockwerk schrie eine Frau, man müsse die Polizei rufen. Man erinnerte sie daran, sie habe selbst zwei Beine und außerdem eine lose Zunge. Sie spuckte auf die Menge herab, knallte das Fenster zu. Gaspard stieß einen Mann von sich, gegen den er gestoßen wurde, packte einen Jugendlichen mit zernarbtem Gesicht an der Schulter, stützte sich auf Schädel, Arme, klammerte sich an Hemden, Kleider, kämpfte sich frei, so gut es ging, machte kehrt und bog aufs Geratewohl in eine Straße.
    Müßig ließ er sich treiben, bis es Abend wurde, die Hitze endlich nachließ und einer trägen Lauheit wich. In der Dunkelheit eroberte ein aus der Betäubung erwachter Schwarm die Straßen. Handwerker, Arbeiter, Hungerleider, Megären und ihre armselige Brut, Säufer und Matrosen stiegen von den Ufern der Seine hoch und fielen auf der Suche nach Zerstreuung und einem kärglichen Mahl in die Straßen ein. Gaspard, seine paar Sols in der Tasche, ließ sich von der Menge mittragen und in den Eingang zu einem fackelerleuchteten Hof spülen, in dem eine Frau eine erbärmliche Kohlsuppe ausschenkte. In den Winkeln tranken Gestalten in großen Schlucken und unter Rülpsern ihre Schale leer. Gaspard gab der Frau seine letzten Sols. Die Geldstücke klimperten, die Händlerin wog ihre Beute ab. Sie streckte ihm eine Schale und einen Kanten alten Brotes entgegen, und Gaspard trat den Platz an den nächsten Hungrigen ab. In dem Salzwasser schwamm nichts als ein Stück Kohl, keine Spur von Speck. Er achtete darauf, dass das verschrumpelte Kohlblatt am Grunde des Gefäßes blieb, tunkte die Krume in die Flüssigkeit, kostete die Säuerlichkeit der Hefe, kaute, und das Brot zerfiel in seinem Mund. Zu seiner Linken aß schweigend ein Mann. Sie schauten einander nicht an. Eines der Kinder um sie herum kroch dem Mann zwischen die Beine, bettelte nach einem bisschen Brot. Er stieß es mit dem Knie zurück. »Kannst du deine Gören nicht selber ernähren?«, warf er seiner Erzeugerin zu. »Der hat heute Morgen schon gegessen«, antwortete diese schulterzuckend. Gaspard streckte ihm seine Kruste hin, der Junge stürzte sich darauf. Der Mann schüttelte den Kopf: »Sollst ihn nicht verweichlichen«, zischte er und spuckte ihm ins Gesicht. Gaspard wischte sich die Wange und leerte seine Schale. Die Flüssigkeit füllte seinen Magen, nahm ihm für eine Weile den Hunger. Er ergriff den Kohl mit zwei Fingern, führte ihn an die Lippen, kaute ihn und gab dann die Schale zurück, bevor er sich wieder unter das Treiben der Straße mischte.
    Man hat endlich mit mir gesprochen , stellte er mit Befriedigung fest. Nicht viel, doch diese wenigen Worte bewiesen, dass er in diesem Augenblick existierte, dass er Paris mit seiner Gegenwart besetzte. War das nicht eine Anerkennung? Gaspard wollte darin ein Zeichen sehen. Nicht einmal die Erschöpfung von
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