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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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solle ihr ein paar Eimer bringen. Ein Trödelhändler schleppte einen Jutesack heran, klopfte der Schneiderin auf die Schulter, warf einen Blick auf das gefräßige Kind, das mit geschlossenen Augen die Brust aussaugte. Aus einem Stockwerk wurde ein Pisspot geleert. Beschimpfungen schossen durch die blasslila Luft. Ein Stein flog aus einem Fenster, prallte an die benachbarte Wand und kullerte dann über den Boden. Die Schneiderin brüllte, man werde noch jemanden verletzen, Fensterläden schlugen zu. Die Schreie holten nun auch die letzten Schlafenden aus ihren Unterschlupfen. Eine benommene Menschenmenge lotste ihren Dreck und ihr Elend auf die Straße hinaus, stieß Gaspard an, der zurückwich und neben die Schneiderin trat.
    Die Männer machten sich auf die Suche nach Arbeit, manche mit Frau und Kindern im Schlepptau. Für eine Nacht in einer Absteige oder einem Keller wurde Miete verlangt. Gaspard wusste, dass auch er sich unter diese Masse mischen müsste, um etwas zu verdienen. Doch schon breitete sich wieder die Schlaffheit des Vortags in ihm aus, noch bevor die Hitze, die der weiße Himmel ankündigte, die Stadt niederdrückte. Was sollte er in dieser Stadt schon tun? Hier war kein Bedarf an einem Bauernburschen, einem Schweinezüchter. Vielleicht sollte er auch Wasser tragen? Er dachte an die Seine, daran, dass er am Vortag noch den Beschluss gefasst hatte, den Fluss aufzusuchen. Er wandte sich an die Schneiderin, die ihn mit ihren wenigen Zähnen anlächelte. »Ich könnte für Sie Wasser holen, Madame«, sagte er mit einer etwas zu lauten Stimme. Die Frau hörte auf zu lächeln und musterte ihn kritisch. Dann schob sie das vom Säugen gerötete Mädchen von sich: »Und wo haste deine Eimer?«, fragte sie misstrauisch. Gaspard senkte die Augen auf seine schwitzenden Hände. »Hab keine Eimer«, stieß er endlich hervor. Er fühlte, wie das Blut in seine Wangen schoss und auf seiner Haut brannte. Die Schneiderin lachte so laut, dass ihre verzerrte Stimmritze zu sehen war: »Und wie willste mir dann das Wasser tragen,?«, ächzte sie. Gaspard zuckte die Schultern. »Haste das gehört, meine Lucie, der da will mir das Wasser in den Hosentaschen bringen!« Er glaubte, sie richte sich an das Kind, doch dann quoll aus dem Schatten des Flurs ein Lachen. Gaspard blieb wie angewurzelt stehen, verlegen, er wusste nicht, ob er noch etwas sagen oder besser wortlos gehen sollte. Die Schneiderin lachte und lachte, als hätte sie einen guten Scherz gehört, und aus dem Schatten grölte es mit. Alles an ihr schüttelte sich, das Fleisch, die Kehle, die zusammengestoppelten Klamotten, der gierige Balg, es lief aus Augen und Nase; sie hielt sich den Bauch mit der Hand, klammerte sich mit der anderen an den Hocker. Als sie bemerkte, dass Gaspard noch immer zerknirscht vor ihr stand, verstummte sie augenblicklich. Sie strich sich über den Schenkel, dann fragte sie: »Du suchst also Arbeit, Kleiner?« Gaspard nickte. »Da geht’s uns allen gleich, isses nicht so, Lucie?«, rief sie, bevor sie, das Gesicht zum Haus gedreht, losbrüllte: »Isses nicht so, Lucie?« Sie erhielt keine Antwort. Die Schneiderin nickte, als hätte die andere geantwortet. »Nicht, dass es ihnen was ausmacht«, fügte sie hinzu, »so isses nicht.« Gaspard war nicht sicher, ob er die Bemerkung verstanden hatte, und so schwieg er. Er rührte sich nicht und suchte mit den Augen die Straße ab auf der Suche nach einem Hinweis, wie er die Worte interpretieren und vernünftig darauf antworten könnte. »Stimmt schon«, sagte er schließlich, da ihm nichts anderes einfiel. Das schien die Schneiderin zu überzeugen, die eine Mähne schwenkte, so rostig wie ihre Nadeln. »Geh doch zur Seine runter, dort werden manchmal Burschen gebraucht, da findest noch am ehesten was«, vertraute sie ihm mit einem freundschaftlich gewordenen Ton an. Stimmt , sagte sich Gaspard, warum habe ich nicht früher daran gedacht, warum habe ich mich so lange darum gedrückt ? Die Seine erschien von neuem als mögliche Rettung: Dort am Kai würde er eine Arbeit finden und darüber hinaus etwas Abkühlung. Er dankte der Frau, die dem Mädchen das schmuddelige Kleid wechselte und ihn bereits nicht mehr beachtete.
    Die Stadt fürchtete die Hitze und legte in diesen frühen Morgenstunden an Geschäftigkeit zu. Gaspard kam zu den Markthallen, wo sich die Händler drängten. Überall wurde mit lautem Geschrei um die Plätze gerungen. Fische und Schlacht-tiere boten dem Himmel ihre
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