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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sämtlicher Übel. So soll ich Ihnen gleichzeitig einen Vater und einen Ehemann geraubt haben. Indes, Madame, was kann ich für die Exzesse des einen oder den Appetit des anderen? Sie überschätzen mich, der ich nur der unglückliche Zuschauer dieses Dramas war. Seien Sie Ihrem Mann eher dankbar, der Sie reicher gemacht hat, als Ihre Geburt zu hoffen Anlass gab.
    Sie sollten wissen, dass ich Ihren Entschluss, sich von der Gesellschaft zurückzuziehen, bedauere. Ist dies nicht aus der Mode gekommen, lediglich etwas für die Heldinnen unserer Romane? So jung, bereits Witwe und überaus reich, das ist eine Vergeudung. Sie wissen um die besondere Zuneigung, die mich mit Ihrem Ehemann verband; sie verbindet mich nun mit Ihnen. Ich bin mir sicher, dass Sie meine Sorge verstehen.
    Ich muss diesen Brief nun versiegeln und abschicken; jenseits der Grenze wird es mit der Post unsicher, und es wäre bedauerlich, wenn Sie ihn nicht erhalten würden. Es mag nur ein Trost sein, doch lehrt die Askese, so scheint es, den Wert einer aufrechten und ergebenen Freundschaft zu schätzen.
    Wie Ihnen bestimmt klar geworden ist: Ich verreise. Das Reisefieber ist bei mir unbesiegbar, ich muss auf der Stelle Folge leisten. So bin ich unterwegs in die Toskana. Die Luft der Provence hat eine Wirkung, die man unterschätzt, wenn man nur den Rauch von Paris kennt. Sie belebt meinen Geist und heilt meine Wunden. Wie? Sie zweifeln, dass das Dahinscheiden unseres Freundes mich tief betroffen hat? Ich bin nicht das Ungeheuer, das Sie in mir sehen. Ich habe Fehler begangen und gebe sie gerne zu: Was ein Erfolg hätte sein sollen, wurde ein Fiasko. Nur gehöre ich zu denen, die immer wieder aufstehen, selbst wenn sie gescheitert sind. Heißt es nicht, man soll sofort wieder aufs Pferd steigen, wenn man aus dem Sattel gefallen ist? Darum erfreue ich mich einer hervorragenden Gesellschaft. Ein Freund, den ich genau hier, in Manosque, kennengelernt habe, erinnert mich sehr an den, den ich verloren habe. Er ist erfüllt von seinen Ambitionen und entbehrt jeglichen Charakters. Als guter Prinz führe ich ihn zu den Herrlichkeiten von Rom und Venedig.
    Ich habe zu diesem Zweck ein Buch von Rousseau auf meinem Tisch liegen, eine Abhandlung über die Kunst, die Menschen zu erziehen. Sein Buch beginnt so:
    Alles ist gut, was aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Missgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muss sich, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muss ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens.
    Ohne das wäre alles noch schlimmer, denn der Mensch gibt sich nicht mit halben Maßnahmen ab. Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen. 1
    Ich tauge nicht zum Philosophen, bin eher ein Handwerker als ein Denker. Doch Sie werden mir beipflichten, dass diese Zeilen höchst einsichtig klingen.
    Denken Sie indes nicht, ich hätte aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ich weiß nun, dass die Jahrhunderte zu schnell verstreichen, um einen Menschen nach ihrem Bild zu gestalten. Man muss wie sie in ständiger Veränderung begriffen sein. Frankreich, dieser Phönix, wird Feuer fangen und bald wieder aus seiner Asche auferstehen.
    Man drängt mich zur Eile, unser Wagen steht bereit. Beten Sie, Madame, da Sie nun einmal Ihre Entscheidung getroffen haben, zu sämtlichen Göttern, den lebenden und den toten dieser Welt. Ich ziehe es vor zu leben.
    Ganz der Ihre,
Etienne de V.
    1 Zitat aus: Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung , Paderborn 1971, Verlag Ferdinand Schöningh, 13. Auflage, aus dem Französischen von Ludwig Schmids, S. 9

INHALT
    ERSTER TEIL
Der Fluss
    I

GASPARD ENTDECKT DIE STADT
ODER
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