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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Ball, werden Sie da sein?«, fragte Odette. »Bestimmt«, antwortete Adeline. Sie gingen durch die Rue du Petit-Bourbon. Der Geruch der Seine und der Schrei der Möwen stiegen zu ihnen auf. Der Gedanke, zum Fluss hinunterzugehen, erfüllte Gaspard mit einer gelassenen Zufriedenheit, und er marschierte sicheren Schrittes drauflos, zwang die Gruppe plötzlich, schneller zu gehen. Er hatte mit der Stadt und dem Fluss eine Rechnung zu begleichen. Sie gelangten zum Quai du Louvre, und die Seine tauchte vor ihnen auf. Ihr Lärm betäubte sie zunächst. Das schwarze Wasser funkelte, die Masten verschwanden hinter dichtem Rauch. An den Böschungen wimmelte es vom immergleichen, stumpfen Pariser Gesindel. Gaspard legte seine Hände auf die Steinmauer, betrachtete das Ufer hochmütig und nachsichtig, erdrückte es mit seiner Selbstherrlichkeit. Mademoiselle de Vigny verzog die Mundwinkel und wandte sich von der hässlichen Landschaft ab. »Seigneur«, sagte sie«, »ich bin erschöpft.« – »Gehen wir zum Pont-Neuf«, antwortete Gaspard.
    Sie bahnten sich einen Weg durch die Masse grobschlächtiger Gesichter, Silhouetten und Lumpen. Adeline und Odette hielten sich dicht hinter Etienne, Gaspard ging in der Mitte der Brücke. Unter ihnen dröhnte die Seine. Es schien ihm, als träte er sie mit Füßen. Sie floss unterwürfig dahin, ihre Strudel hatten für Gaspard nichts Bedrohliches mehr. Der Fluss war bezwungen. Er dachte daran, wie er die Stadt beherrschte, und die Seine pflichtete ihm bei, umschmeichelte ihn mit ihren sanften, stinkenden Wellen. Er ging auf die Statue Heinrichs IV. an der Spitze der Ile de la Cité zu, die das Wasser teilte. Von der offenen Wunde des Flusses aus, die die Stadt aufschlitzte, betrachtete er die Pariser Landschaft, als ein Mann sich zwischen sie drängte. Adeline und Mademoiselle de Vigny wichen entsetzt zurück, Etienne trat einen Schritt vor. Die Hässlichkeit des Unbekannten war verblüffend. Das Gesicht war von dicken Schuppen und Blasen zerfressen. Der Mann versteckte seine Abscheulichkeit unter einer Jutekapuze und bettelte mit gekrümmtem Rücken um ein Almosen, beugte sich tief über den Boden. Von seinen Fetzen ging ein höllischer Gestank aus, der dem Atem von Paris glich, eine Mischung all der Ausdünstungen, die Gaspard von früher kannte: der Schweiß der Kunden, der Geruch der Friedhöfe und Abtrittsgruben. Die Stadt stieß ihm durch den Mann ihren Atemzug ins Gesicht. Auf der anderen Seite der Brücke gingen zwei Soldaten vorüber, und Etienne winkte sie herbei. Als der Bettler sie kommen sah, wollte er die Flucht ergreifen. Er hob das Gesicht, begegnete Gaspards Blick, und beide erstarrten, erkannten im anderen die Reinkarnation eines vertrauten Menschen. Die Augen des Zerlumpten suchten auf dem gepuderten Gesicht ein Zeichen des Wiedererkennens, und Gaspard spürte, wie sein Bewusstsein ins Schwanken geriet, das Fieber die Zeit verzerrte und ihn in die Dunkelheit eines Zimmers im Faubourg Saint-Antoine versetzte. Er erinnerte sich an die anhängliche Freundschaft von Lucas, den er meinte durch sein Verschwinden bestrafen zu müssen. Gaspard erinnerte sich an seine Nacktheit im Dämmerlicht, an die Hände auf seinem Rücken, an die rauen Stellen, die der Fluss auf seiner Haut hinterlassen hatte. Die Seine hatte Lucas überwältigt. Als die Soldaten bei ihnen waren, hielt sie Etienne mit einer Geste auf Distanz. Um sie herum bildete sich eine Gruppe Schaulustiger, und Lucas wurde bewusst, dass er sich nicht beizeiten aus dem Staub gemacht hatte. Es hing jetzt von Gaspard ab, ob er bleiben konnte, eine einzige Geste reichte, um die Wachen wegzuschicken. Dieser Gedanke beruhigte ihn, er empfand Dankbarkeit für Gaspard, vergaß, dass sein Kamerad ihm davongelaufen war, dass er ihn im Stich gelassen und wie hilflos es ihn gemacht hatte – er erinnerte sich an das Gefühl einer obskuren und schmerzhaften Leere –, und fand das Vertrauen wieder, das er in ihn gesetzt hatte. Gaspard dachte darüber nach, wie leicht es wäre, Lucas zu helfen. Aber durfte er sich vor den Anwesenden, vor Adeline und Odette kompromittieren, das Bild eines barmherzigen und schwachen Mannes abgeben? Er zögerte einen Augenblick, dann merkte er, dass Lucas auf seinen Bauch starrte. Er senkte den Blick und sah auf der beigen Seide seines Jackenzipfels eine rote Blume erblühen. Gaspard legte die Hand auf den Stoff, seine Fingerkuppen färbten sich blutrot. Schnell schlug er den Jackenzipfel herunter. Die
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