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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Gaffer dachten an einen Messerstich, ein Murmeln ging durch die Menge, die Wachtmänner packten Lucas am Arm. »Hat er Sie verletzt, Monsieur?«, fragte einer von ihnen. Gaspard schüttelte den Kopf: »Nein, es ist nichts, sehen Sie, er hat keine Waffe.« – »Kennen Sie den Bettler?«, fragte der andere. Gaspard beschloss, dass sich nichts zwischen ihn und Paris stellen und die Vollkommenheit dieses Herbsttages verderben durfte. Lucas konnte nicht ungestraft den Blick auf seinen Bauch legen und seine Wunde erahnen. War nicht er im Übrigen schuld an dieser plötzlichen Blutung? Gaspard hatte Emma fallen lassen, warum also nicht auch ihn? »Führen Sie den armen Schlucker ab«, sagte er endlich. Die Soldaten nickten und führten Lucas durch die Menge. Gaspard wandte sich wieder dem Fluss zu. Endlich dominierte er ihn. Etienne und Adeline standen neben ihm. Die Spiegelung des Wassers, die sich in seinem Fieberwahn verzerrte, blendete ihn. Von der Stadt erhob sich ein unaussprechliches Chaos, ein unauslöschbares Geschrei, ein unabänderlicher Geruch. Das Geschwür seiner Wunden verzweigte sich, schlängelte sich wie ein unheilvolles Vorzeichen durch sein Fleisch. Seine Hegemonie über Paris kulminierte in seinem Bauch und vollendete seinen Verfall.
    Einmal in der Nacht erwachte Gaspard. Der Schweiß rann von seiner Stirn, sein Bauch glühte wie eine riesige Sonne. Er musste sich, um aufzustehen, auf die Seite drehen, sich am Bettgestell festhalten. Im Zimmer herrschte Stille. Er setzte sich auf, rang nach Atem und kämpfte gegen die Übelkeit. Quimper zerstört mich, Quimper überwältigt mich , dachte Gaspard. Die Infektion in seinem Bauch war der Beweis, dass die Vergangenheit wiederauftauchte. Gaspard scheiterte, schaffte es nicht, sie auszureißen. Er erhob sich mit einer Grimasse und ging auf die Kommode zu. Aus einer Schublade nahm er die Spiegelscherbe, betrachtete sie mit der Erleichterung, die sich stets einstellte, wenn er sie unverändert vorfand. Er zündete einen Leuchter an und kehrte zum Bett zurück. Das Licht sprenkelte die Geschwulst, die Zerklüftungen seines Bauches. Die Wunden verheilten nicht mehr. Sie klafften neben den Narben, geronnenem Blut, öffneten ihre purpurnen Mäuler, spieen einen dicken braunen Eiter aus, einen fauligen Gestank. Er tastete nach einer heilen Stelle. Der Schnitt war tief, von einer durch Übung erlangten Präzision. Gaspard drehte das Gesicht ins Kissen, biss in den Stoff. Er sog mit dem Laken das Blut auf. Der Strom durchtränkte die Baumwolle, spülte ein korallenrotes Meer über das Gewebe. Endlich versiegte die Quelle. Abwesend, geschwächt, schlug Gaspard das Laken zurück, betrachtete den Schnitt. Er legte einen Zeigefinger auf jede Seite der Wunde, dann zog er die Ränder auseinander. Ein paar schlaffe Gerinnsel sickerten heraus. Gaspard beugte sich über seinen Bauch, so sehr gekrümmt, dass sein Rücken und sein Nacken schmerzten. Im Schein des Leuchters untersuchte er voller Aufmerksamkeit, voller Rührung und Hoffnung das Innere des Einschnitts. Tief unter der Haut, unter dem dicken Fleisch, erblickte er mit Schrecken das Gekröse des Bauchfells, diesen obszönen Beutel, der seine Eingeweide enthielt. Nie hatte er daran gedacht, dass dieser letzte Schutzwall zwischen der Welt und der Schändlichkeit dieser empörenden Häute existierte. Sollte er ihn aufschneiden, ausliefern, was sich darunter verkroch, sollte er auf der Stelle daran zugrunde gehen? Er zitterte unter dem Fieber, die Galle stieg ihm in den Mund. Er ließ die Lippen der Wunde zurückschnellen, drückte das Laken darauf, und fiel auf sein Lager zurück. Seine halluzinierenden Augen jagten über die Zimmerdecke, auf der der Kronleuchter topazfarbige Maserungen zeichnete.
    Noch tiefer, tief unter dem Bauchfell hatte Gaspard das Wabern eines unheimlichen Schwarms, eines schwärzlichen Klumpens gesehen, die sich still ausbreitete und der er sich nur beugen konnte. Die ihm überlegene Masse seines Geschlinges.

EPILOG

Manosque, 7. Juli 1762
    Verehrte Madame,
    diese Zeilen werden Sie von der Langeweile zerstreuen, die Ihre Hand führte, als Sie mir gestern den Brief schrieben, den ich heute Morgen erhalten habe. Was kann denn in Orléans schon los sein? Bestimmt gar nichts. Nun, ich verzeihe Ihnen, da ich weiß, dass nur der Kummer aus Ihnen spricht, dass dieser sich oft in Zorn verwandelt und selbst zu Gericht ziehen will, auch wenn es sich um ein blindes Gericht handelt.
    Sie bezichtigen mich
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