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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dazu gebracht, seine Wünsche zu erfüllen, zu welchem Preis auch immer? Und war da nicht, über Etiennes Einfluss hinaus, ein unstillbarer Wunsch nach Anerkennung? Und dann schließlich Quimper.
    Nie hatte der Comte de V. eine Emotion durchscheinen lassen. Er entzog sich Gaspards Verständnis, seiner Zuneigung, hatte dafür gesorgt, dass jeder Augenblick der Vertrautheit in Demütigung endete. Zum ersten Mal zeigte er eine Rührung, an der Gaspard nicht zweifelte. Es lag in dieser Umarmung eine unerhoffte Kraft, eine Wut; die Berührung ihrer Körper hatte nichts mehr mit der Oberflächlichkeit der Lust zu tun. Etienne bezeugte durch diese Geste Dankbarkeit, gestand, sich in ihm wiederzufinden, erfüllt von ihrer Differenz und dem, was Gaspard an Desillusionierung, Unmenschlichkeit erworben hatte. In der Rue du Bout-du-Monde hatte er sich vorgenommen, von Etienne eine Wiedergutmachung zu erreichen, von ihm den Preis für seinen Verfall einzufordern. Aber was konnte er mehr wünschen als diese Umarmung? Die Worte des Comte de V. nahmen ihm jeden Wunsch nach Gerechtigkeit, zwangen ihn, sich hinzugeben. »Die testamentarischen Verfügungen fallen zu deinen Gunsten aus«, flüsterte Etienne ihm ins Ohr. »Morgen gehört alles, was uns umgibt, dir, und du bist einer der reichsten Männer von Paris. Die Nachricht wird Gerüchte in Umlauf setzen, dein Ruf ist im Entstehen begriffen. Nun muss deine Legitimität vervollständigt werden.«

V

QUIMPER
    Im Morgengrauen beschloss Gaspard, zu Fuß nach Paris zurückzukehren. Er marschierte durch das Fliederblau des zarten Nebels. Das Gras verströmte sein Grün durch die träge Nacht, und seine Schuhe knirschten auf dem Boden. Er zog die Luft ein, den Geruch des Taus, der feuchten Felder. Der Sauerstoff füllte seine Brust, brachte die Mäander seines Körpers in Schwingung, regte sein Blut an und spannte seine Muskeln. Gaspard spürte, wie sein Fleisch in der Begeisterung über diesen Marsch durch den frühen Morgen belebt, wie seine Sinne stimuliert wurden. Doch er blieb unzugänglich für diese Empfindungen, betrachtete die Schönheit ringsum, die entspannte Ruhe, die sich vor ihm abzeichnende Stadt mit Distanz. Das Erbe war ein ungeahnter Glücksfall; während er auf Paris zumarschierte, verzieh er Etienne, ihn in den Abgrund gestürzt zu haben. Sein Egoismus hatte ihn geblendet, ihn am Wohlwollen des Comte und der Größe ihrer Ambitionen zweifeln lassen. Hätte ich einen fulminanteren Aufstieg erhoffen können?, fragte sich Gaspard. Mit visionärem Blick hatte Etienne über seinen Arrivismus hinaussehen können, neue Ideale in ihm offenbaren, einen Mann vervollkommnen, ein Bewusstsein wecken. Mit jedem seiner entschlossenen Schritte, von denen er sich tragen ließ, wuchs die Überzeugung. Die Überzeugung, eine Überlegenheit erworben zu haben, die Einzelheiten der Natur um ihn herum mit einem Machtgefühl zu betrachten. Seine Souveränität verklärte die Spuren, die die Menschen hinterlassen hatten, die vor sich hin schlummernden Bauwerke. Gaspard besaß ein Privileg, dass ihm keiner mehr nehmen konnte. Tausend Möglichkeiten erstanden vor ihm, trieben ihn Paris, seiner letzten Eroberung zu.
    Die Beerdigung fand in Saint-Etienne-du-Mont de la Piété statt; die Kirche quoll über vor Menschen. Raynaud wurde im angrenzenden Friedhof beigesetzt, und Gaspard zog sämtliche Blicke und Begehrlichkeiten auf sich. Er sah zu, wie der Baron unter einem eintönigen Himmel in die Pariser Erde gesenkt wurde, erleichtert, dass er endlich verschwand. Etienne nahm nicht an der Zeremonie teil, und Gaspard war froh darum: Dieser Augenblick gehörte ihm.
    Die d’Annovres waren nach Paris zurückgekehrt. Vor Raynauds Tod hatte Gaspard ihren Salon nur noch aus bloßer Langeweile besucht. Er begegnete ihnen mit einer kaum verhohlenen Verachtung und blieb immer wieder fern, ging sogar so weit, ihre Einladung ins Berry abzulehnen. Diese Verwandlung machte sich auch in seinem Charakter und seiner Physiognomie bemerkbar, wie die Comtesse verblüfft feststellte. »Wie süffisant er geworden ist, dieser Junge!«, rief sie eines Abends aus, während sie mit rabiater Geste eines ihrer Schmuckstücke ablegte. »Und Sie sagen nichts. Man muss ihm in Erinnerung rufen, was er uns schuldig ist. Ich erwarte ja nichts außer ein wenig Erkenntlichkeit. Habe nicht ich ihn bei den Saurels eingeführt? Kann man denn so undankbar sein und denken, er wäre ohne meine Unterstützung eingeladen worden? Und jetzt?
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