Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
allzu vertraute Leere war übrig geblieben, diese Dumpfheit, die der Comte so gut auszulösen verstand, eine Unentschlossenheit, eine lähmende Verwirrung. »Schweigen Sie«, wiederholte Gaspard, der bereits wieder unter dem Einfluss von Etienne de V. stand. »Keine falsche Bescheidenheit, man muss seine Trophäen anzuerkennen wissen. Beuge dich den Tatsachen, freu dich, dass es mit diesem Mann zu Ende gegangen ist. In einem gewissen Alter hat das Vergnügen nun mal seinen Preis, und Raynaud hat ihn bezahlt.« Als Etienne de V. ihn an den Schultern packte, verweigerte sich Gaspard ihm nicht, er ließ sich von seinen großen Händen packen, sich ergeben seinen Atem ins Gesicht blasen. »Du hast jede meiner Erwartungen voll und ganz erfüllt. Wie konnte ich bei unserer ersten Begegnung im Atelier nur an deinen Fähigkeiten zweifeln! Wie unsicher mir dein Potential schien!« Gaspard betrachtete das euphorische Gesicht des Grafen, forschte nach einer Bedeutung seiner Worte. Er versuchte kraftlos, sich der Umklammerung zu entziehen, aber Etienne merkte nichts: »Erinnerst du dich, wie du mich angefleht hast? Du wolltest es zum Adeligen bringen, werden wie ich, dem Bild des Jahrhunderts entsprechen.« – »Sie haben mich zerstört«, flüsterte Gaspard. »Um dich besser aufzubauen. Ich sprach damals von einem vollständigen Menschen, der mit den Extremen verkehrt, die Welt kennt und sich selbst entsagt.« – »Sie reden Unsinn.« – »Na«, antwortete Etienne vorwurfsvoll, »um sich dumm zu stellen, reicht die Zeit nicht. Ich habe nur einen Weg vorgezeigt, dem du gefolgt bist. Ich fühlte dieses unglaubliche Potential in dir. Du warst nur ein braches Feld, ein Nichts, erinnerst du dich? Und nun bist du nicht wiederzuerkennen, mehr, als wir zu hoffen wagten, ein Abbild des Jahrhunderts, ja. Es hat sein Licht und seinen Schatten über dich geworfen, und du hast alles genommen, um voranzukommen. Siehst du denn nicht, welches Wissen du besitzt? Verstehst du nicht diese Hellsicht ohne jeden Skrupel, ohne jeden Zwang? Du bist von jeglicher Moral befreit, ein Libertin.« Etiennes Worte verwirrten Gaspard, gaben seinen Irrungen einen Sinn, sie enthüllten eine Wahrheit, den geheimen Plan eines Mannes, den er bis zum Wahnsinn geliebt hatte. Ein Gefühl der Fremdheit ergriff ihn: »Ich bin zerstört, ich bin verloren«, gestand er. »Du bist verwirklicht, am Ziel angelangt. Ich habe über jeden Schritt deines Aufstiegs gewacht, vom Pariser Bordell bis ins Schloss der Présidente de Cerfeuil, nichts ist mir verborgen geblieben. Ich habe mich von der Gesellschaft der d’Annovres ferngehalten, um in dir den Wunsch nach Eroberung zu entfachen. Ich habe keinen Augenblick mehr an dir gezweifelt, meine Belohnung, mein Werk.« Das Zimmer verschwand, der Keller trat an seine Stelle, ihre noch feuchten Körper, erschlagen von der Lust. »Es gab kein anderes Mittel. Dieser Weg gehörte dir allein, es war nötig, dass du frei wählen konntest, ihn einzuschlagen oder zu verzichten. Es lag an dir, eine Richtung einzuschlagen und ihren Sinn festzulegen. Was konnte ich anderes tun, als auf der Hut zu sein, im Schatten zu warten, mit Geduld und Wohlwollen? Ich bin nichts als die Stütze für dein Wachsen, der Bürge deiner Erziehung. Jetzt bin ich zurück. Hast du denn nie geahnt, dass ich am Ende des Weges stehen würde?« Gaspard versuchte seine innere Leere, das Verschwinden seiner Gewissheiten zu ergründen. Als wäre dies das Normalste der Welt, umschlang ihn Etienne, und er konnte sich nicht wehren, ließ sich an die Brust des Grafen ziehen. Sein Geruch, noch präsent in seiner Erinnerung, umhüllte ihn, und er ließ sich einfangen von der Wärme dieses so verehrten, so verfluchten Körpers. Er spürte seine Haut, das Schlagen einer Vene an seiner Wange. Etienne de V. drückte ihn an sich, eine Hand in seinen Haaren, die andere um seine Taille. Gaspards Blick wandte sich nicht von Raynauds Überresten, von den Schatten, die die Leuchter in seinen Mund warfen. Er war die Schöpfung Etiennes, sein ergebener Schüler. Die an der Seite von Emma verbrachte Zeit und die Erniedrigung durch die Kunden hatten unter der Aufsicht des Comte gestanden. Mehr als er ahnen konnte, war Gaspard Etiennes Objekt gewesen, ein günstiges, bebaubares Terrain. Er erinnerte sich, wie er Etienne in der Droschke in der Nähe der Rue de la Parcheminerie angefleht hatte, wie er gewünscht hatte, ihm ähnlich zu werden. Hatte der Comte nicht Recht? Hatte er ihn nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher