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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Gestalt der Mutter, die in einer Ecke des Raumes unter einer Wolldecke mit knorrigen Fingern strickte, während ihre Haare als gräulicher, verfilzter Vorhang vor ihrem fleckigen Gesicht herabfielen. Dann die kalte Erscheinung des Vaters. Eigenartigerweise waren Gaspard die Züge seiner Mutter im Geist präsent, jene des Vaters jedoch kaum. Einzig an die Silhouette erinnerte er sich, wie sie sich vom schmutzigen, matten Gegenlicht eines Türrahmens abhob.
    Auch der Lärm der Schweine, die im Stall neben seinem Elternhaus zusammengepfercht waren, kehrte zurück – das Grunzen der an die Säue gedrängten Ferkel, das Schmatzen der Schnauzen, die in Schlamm und Exkrementen stocherten, das Aneinanderreiben der langborstigen Häute, und der Ekel erregende Geruch, der die Wände des Hauses ebenso durchdrang wie die Haare seiner Mutter. Seine Mutter stank nach Sau. Die Erinnerung an seinen Vater hingegen haftete vor allem am Gedanken an abgestochene Schweine. Doch sosehr Gaspard das Bild abgestochener Säue auch erforschte, er bekam nicht mehr als das Phantom des Todesschreis in seinem Ohr zu fassen und eine unbestimmte, vielleicht eingebildete Bitterkeit unter seiner Zunge, die er mit einer Grimasse ausspuckte, so wie man den Kopf schüttelt, um wieder in die Welt zurückzukehren.
    Nichts in diesem Leben hatte den jungen Gaspard dazu prädestiniert, zu jenem Mann mit dem sicheren Gang zu werden, der nun zur Seine hinunterging und sich in der Vorstadt Saint-Denis verlief. Nichts, außer dem Schrei der Schweine vielleicht, den er während so vieler Jahre Tag und Nacht über sich hatte ergehen lassen müssen, weshalb er nun das ungeheuerliche Pariser Getöse dem Lärm von Quimper vorzog. Einzig die Schweine hatten etwas mit diesem Augenblick zu tun. Nichts anderes hätte Quimper mit Paris verbinden können. Und so kam es ihm beinahe ungehörig vor, dass er überhaupt eine Erinnerung besaß an jenes Leben außerhalb von Paris, so als hätte Gaspard das Gedächtnis eines anderen geplündert. Er war nicht in der Kleinstadt Quimper geboren. Er war in der Rue Saint-Denis zur Welt gekommen, im Alter von neunzehn Jahren. Gaspard marschierte also auf die Seine zu mit der Erfahrenheit eines Ungeborenen. Das Gefühl der Leere, das er dabei empfand, forderte die Stadt auf, ihn auszufüllen. Er saugte Paris in sich auf und empfand keinerlei Befürchtung, nur ein Staunen und das Verlangen, sich der Stadt anzubieten, von ihr bewohnt zu werden. Paris war eine unerwartete Chance, und Gaspard sah die Möglichkeit eines neuen Horizonts aufscheinen.
    Gaspard war ein Kind vom Land, die Haut gegerbt vom Westwind und dem bretonischen Nieselregen. Das Gesicht war nicht sonderlich schön, gewöhnlich vielleicht, aber durchaus charmant. Der Schwung der Brauen markierte eine eigenwillige Stirn, verstärkte das Kobalt der Augen. Die Nase war sehr gerade, etwas zu lang, und die Feinheit ihres Rückens entsprach der Flucht der Nasenflügel. Die Wangen, von einem Dreitagesbart überzogen, akzentuierten den Fleischton seiner Lippen. Sein jugendlicher Ausdruck war vor allem dem Ansatz der Ohren geschuldet, die aus dichtem braunem Haar herausragten. In seinem früheren Leben hatte Gaspard seinem Vater im Schweinestall und bei der Feldarbeit geholfen. Die Anstrengung und die Zeiten der Hungersnot hatten seinem Körper ihre besondere Gestalt aufgeprägt. Die Knochen sprangen unter der Muskulatur hervor, und die Schultern waren unverhältnismäßig breit, die Bizepse spannten das Hemd. Bei jedem Schritt klafften die Risse im Stoff, entblößten sich die langen Beine, an denen sich mit der Regelmäßigkeit eines Pendels zwei raue Hände rieben. Unter dem Hemd ließ sich ein unbehaarter Oberkörper erahnen, und durch das durchsichtige Weiß der Baumwolle zeichneten sich die Rippen und der Hof der Brüste ab. Der Bauch war flach, und der Bauchnabel, eine tiefe Ligatur im Fleisch, war das Einzige, das darauf hindeutete, dass eine Frau ihn geboren hatte.
    Er wischte sich die Stirn und blieb im Schatten eines großen Gebäudes an der Ecke der Rue Saint-Denis und der Rue des Filles-Dieu stehen. Zwei alterslose, mit Lumpen bedeckte Mädchen, schleppten sich an ihm vorbei. Der Busen der einen quoll aus einem dreckigen Mieder heraus, die Brüste der anderen wurden unter ihrem Gewand hin und her geschüttelt. Die beiden schauten ihn mit schweißtriefenden Gesichtern an. Ihre dumpfen Blicke musterten ihn, bevor sie zu flüstern anfingen und losprusteten. Er wandte sich
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