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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nicht, sich zu schaden? War er genug in der Gesellschaft verankert, um nach dem Tod des Barons weiter voranzukommen? Gaspard sorgte sich um einen neuen Unterhalter. Was soll’s , dachte er, Raynaud wäre so oder so gestorben, ob in Chartres oder in Paris. Die Reise hat die Sache beschleunigt, umso besser! Wie kann man überhaupt so lange leben? Ich habe ihm erlaubt, sich nützlich zu erweisen in einem Alter, in dem man normalerweise schon überflüssig ist. Er verlangt nach mir mitten in der Nacht, zur Todesstunde, ist das nicht ein Beweis seiner Dankbarkeit? Die Welt wird seine Freundschaft zu mir schon richtig einschätzen. Das Poltern über das Pflaster belebte seine Wunden, und Gaspard hielt sich eine Hand auf den Bauch. Durch die Scheibe konnte er die Fackeln der Wache sehen. Die Fenster, klaffende Mäuler, gaben da und dort den Blick frei auf vom Schlaf benommene, schwitzende Körper in ihren Bruchbuden, graue, glänzende Häute. Bis in die Droschke drangen diese Herdengerüche, der Atem der Stadt, die Ausdünstungen, die aus ihren Tiefen krochen, ein unausstehlicher Gestank. Gaspard schlug den Vorhang hinunter, zog das Halbdunkel dem Schauspiel draußen vor. Er verachtete die Stadt, die Schmarotzerleben. Nichts rechtfertigte ihre Existenz; sie waren eine Beleidigung für Gaspard, und er schwor insgeheim, sich nie mehr herabzulassen, mit ihnen in Berührung zu kommen. Das ist, dachte er, die Lehre, die aus Etiennes Wiederauftauchen zu ziehen ist: Die jüngste Konfrontation mit der Vergangenheit bestärkte ihn darin, nichts mehr mit diesem Dreck zu tun haben zu wollen, mit allem, was die Stadt an Exkrementenleben aussonderte. Gaspard stellte sich über Paris, idealisierte seine Existenz. Etienne und Raynaud würden seinem Aufstieg nicht in die Quere kommen. Er ballte die Fäuste und biss die Zähne aufeinander. Er würde diesen Mann, zu dem er geworden war, verteidigen, dieses Ungeheuer der Habgier, die Belohnung, die ihm für seine Opfer zuteilgeworden war. »Schneller, schneller«, befahl er dem Kutscher, »wir haben noch nicht einmal den Zoll passiert!« Mit rasendem Blick setzte er sich wieder hin. Sie fuhren Richtung Route de Versailles, ohne zu wissen, dass Raynaud im selben Augenblick mit einem Röcheln verschied, die Essenzen seines Körpers in den weichen Laken verbreitete. An seiner Seite saß der Comte Etienne de V., der aufstand, die Hand auf die Augen des Barons legte, seine Lider niederschlug. Lange blieb er reglos, betrachtete zufrieden die bereits grauen Überreste Raynauds.
    Als Gaspard das Zimmer betrat, schwappte ihm ein abgestandener Geruch entgegen, der nur mit Mühe den von Raynauds Agonie überdecken konnte. Etienne kam auf ihn zu, und die Wunden auf Gaspards Bauch spannten sich, pochten über den Unterleib hinaus. Er hatte die Pariser Straßen nicht nach dem Comte abgesucht; in dieser Hinsicht war die Rückkehr von Chartres umsonst gewesen. Gaspard konnte nicht noch einmal die Adern der Hauptstadt durchforsten. Er hatte, zu sehr mit seiner Verstümmelung beschäftigt, darauf gewartet, dass Etienne von selbst auftauchte, da er nicht mehr die Kraft hatte, etwas zu unternehmen, das ihre Begegnung wahrscheinlicher gemacht hätte. Der Comte de V. hielt sich mit derselben Ungezwungenheit in Raynauds Zimmer auf wie im Schloss der Présidente de Cerfeuil. Doch nichts erlaubte es Gaspard, seine Anwesenheit zu deuten, sodass er wie angewurzelt stehen blieb. Er schwieg, und Etienne trat zur Seite, gab Raynauds Leiche seinem Blick frei. Die Magerkeit hatte den Baron unkenntlich gemacht. Sein Unterkiefer war heruntergeklappt, und der offene Mund entblößte eine schaumbedeckte Zunge. Gaspard gelang es, an Etienne vorbei zum Bett zu gehen, und er legte seine Hände auf das Fußende. »Ich verstehe nicht, warum Sie hier sind«, sagte er. Der Comte de V. antwortete nicht, er stellte sich an seine linke Seite und richtete den Blick auf die Leiche des Barons. »Sie haben hier nichts zu suchen«, betonte Gaspard mit einer Stimme, die vor Demütigung zitterte. »Wirklich«, fragte Etienne, »glaubst du das?« Gaspard antwortete nicht, biss die Zähne zusammen, spannte seinen Kiefer und den Hals. Der Graf fuhr fort: »Welch schöne Arbeit … Ein bisschen überstürzt sicher, aber das Ergebnis ist da und nicht zu unterschätzen.« – »Schweigen Sie«, befahl Gaspard. Dabei empfand er nichts mehr von dem Zorn, der ihn noch in der Droschke geleitet, der den Hass gegen Etienne geschürt hatte. Nur noch die
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