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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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angefaulten Bäuche dar. Mit dumpfem Aufschlag fiel das Gekröse, mit matschigen Schlucksern das Blut zu Boden. Er ging den Friedhof Saints-Innocents entlang, von dem der Geruch nach Erde und Aas aufstieg, dann durch die Rue Saint-Denis in Richtung Fluss. Von allen Seiten polterten die Kutschen flussabwärts, wirbelten Staub auf, färbten die Luft aschfahl. Gewandt stürzten sich die Pariser in die Gewaltsamkeit dieses ständigen Stromes, schossen zwischen den Rädern hervor, erstarrten zwischen zwei Wagen, wichen einem wilden Pferd aus. Durch die Straße zu gehen erforderte eine ständige Wachsamkeit, sie zu überqueren war ein halsbrecherisches Unterfangen. Die Farben verschmolzen zu einem allgemeinen Grau. Gaspard lief mit raschem Schritt. Ihm fiel auf, dass noch andere Männer seinewärts strebten in der Hoffnung auf einen Broterwerb. Mitten im Gewimmel dieser trostlosen Seelen fuhr eine goldverzierte, erdverschmierte Kutsche an den Straßenrand, sodass die Passanten panisch auseinanderstoben, und blieb mit einem Ruck stehen. Zwei Frauen hämmerten auf die Tür ein, spuckten, sodass der fette Speichel über die Scheiben lief, hinter denen sich undurchlässige Samtvorhänge in Falten legten. Man wartete, bis wieder etwas Ruhe eingekehrt war und die alten Weiber weitergegangen waren, dann gingen die Türen auf, und zwei Damen, deren kreidige Gesichter durch eine Mouche betont waren, zwängten sich heraus. Ihre Roben raschelten, den Knitterfalten des Tafts entwichen betörende Düfte, die den säuerlichen Geruch der Damen überdeckten. »Hier ist es, meine Liebe, wie ich Ihnen sagte: ein ausgezeichneter Schneider!«, rief die eine und zeigte auf ein Atelier im Hintergrund eines Hofs. Sie konnten sich offenbar nicht entscheiden, ihren Fuß auf den Boden zu setzen. »Gütiger Himmel, was für ein Gestank!«, schimpfte die andere und wedelte mit einem Fächer vor ihrem Gesicht. Gaspard war stehen geblieben, um sie zu beobachten, getrieben von dem Wunsch, ihren Arm zu nehmen und sie zu begleiten. Die Dickere der beiden hielt der anderen ein Balsamdöschen hin: »Nehmen Sie diese Salbe, das macht die Sache erträglich«, riet sie, während sie ihre cremeglänzenden Finger im Schutz ihres Spitzenfächers in die Nasenlöcher stopfte. Gaspard roch deutlich, dass auch sie stanken, nicht weniger als die Straße, aber es war ein anderer, ein raffinierter, komplexerer Geruch. Endlich stiegen sie aus, warfen den Schlag hinter sich zu und beeilten sich, in den Hof zu kommen, um im Atelier zu verschwinden.
    Gaspard ging weiter, verwirrt über das, was er beobachtet hatte. Er wusste nichts über Privilegien, und so fiel es ihm nicht ein, sich daran zu stoßen. Er musste an die Spucke an den Scheiben des Fiakers denken. Während er Richtung Seine ging, würden diese Frauen kostbare Stoffe auswählen. Danach würden sie zu ihren prunkvollen Häusern zurückkehren und in die Salons, wo sie parlierend dampfende Porzellantässchen mit chinesischem Tee an die Lippen führten. Diese Vorstellung machte ihn nachdenklich. Müsste er sich über irgendetwas empören? Doch er empfand nichts als Apathie, wenn er an die Oberschicht dachte. Er schaute um sich: Es war absurd zu denken, dass dieses Drunter und Drüber ohne Richtung und Ziel von einer Regierung geführt wurde. Diese Erkenntnis weckte in Gaspard höchstens einen Anflug von Neid, eine schlaffe Gemütsregung angesichts seiner Lage als Armer. »Ich werde nach Versailles gehen«, sagte er laut, aber so, dass nur er es hörte. Seine Worte, ein lethargischer Ausbruch, machten ihm etwas Mut.
    Und dann, plötzlich, war die Seine da, ihr Schlammgeruch, das ungeheure Hafentreiben. Überwältigt blieb Gaspard stehen. Tosend breitete sich die schwarze Flut aus, ein Krake, der seine Fangarme nach der Stadt ausstreckte. Am Ufer jagten sich Fiaker und Droschken. Die Kutscher, wahre Harpyien, schlugen ihre Peitschen und fluchten, was das Zeug hielt. Der Pöbel drängte sich, wimmelnd wie in einem Ameisenhaufen, aneinander, arbeitete sich wellenartig auf der Böschung voran. Auf dem Kai entließen Schiffe ihre Ware in Holzkisten, die von kräftigen Matrosen unter Gebrüll hochgestemmt wurden. Gaspard trat näher. Aus einem Laderaum fiel ein Sack Getreide, und sein Inhalt ergoss sich ockergelb über den Boden. Auf den Schiffbrücken wurden Stoffe entrollt. Sobald die Fracht ausgepackt war, wurde sie wieder auf Männerrücken und Karren geladen, aus- und wieder eingewickelt, bezahlt und weggetragen. Ein
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